Auf den Flügeln des (Protest)gesangs

Auf den Flügeln des (Protest)gesangs
Auf den Flügeln des (Protest)gesangs
Burg-Waldeck-Festival 1968; Quelle: Wikipedia

Ich war auf der Suche nach neuer Lektüre. Ein Krimi sollte es sein. Aber nichts mit den heute handelsüblichen Supergrausamkeiten. Und erst recht ohne Serienkiller. Da stieß ich plötzlich auf ein Wort, das mich elektrisierte: Waldeck. Waldeck? So heißt ein Krimi von Jürgen Heimbach. In der Geschichte gerät eine junge Frau mitten in den Aufbau zu einem neuen Liederfestival. D e m Festival. Der Autor verwendet sogar die ersten Sätze aus der Eröffnungsrede von Diethard Krebs.

2024 jährt sich das Ereignis zum 60. Mal. Den Krimi habe ich dann auch noch gelesen. Aber wichiger war erst einmal, zum Bücherregal zu eilen.

Da stand sie, griffbereit gleich rechts neben den Büchern über Tango: Die Dokumentation über „Die Burg Waldeck Festivals 1964 – 1969“. Ein Textband, dazu zehn CDs mit einem Querschnitt durch die Musik dieser Jahre. Richtig, da war doch auch noch… mit einem weiteren Griff hatte ich das Buch „Rotgraue Raben – vom Volkslied zum Folksong“ von Hein und Oss Kröher zur Hand. Die Zwillingsbrüder aus der Pfalz gehörten zur jugendbewegten Gründergeneration des Festivals. Der Titel spielt auf die Bundesfarben des Nerother Wandervogels an: Rot und Blau. Damit war meine Freizeitbeschäftigung erst einmal gesichert. Der geplante Artikel zu Michael Lavocahs Buch über Osvaldo Fresedo muss warten. Der Streit über die (Über)Alterung der Tangoszene, den die TANGODANZA losgetreten hat, muss ebenfalls ohne mich auskommen. Ich beschäftige mich erst einmal – wie immer höcht subjektiv in meinen Texten – mit der Waldeck und den Folgen.

Ich bin nie in der Ruine im Hunsrück gewesen. Auch die Fahrt oder Wanderung mit Zelt war nie mein Ding. Eine Jurte kenne ich nur aus der Literatur. Aber die Lieder, die auf der Waldeck gesungen wurden, die Künstler, von denen sie stammen, haben mich über die Jahre beschäftigt. Jedenfalls ein Teil von ihnen. Vielleicht sogar geprägt. Meine persönliche Entwicklung ging allerdings anders herum als im Buchtitel der Kröhers: Vom Folksong zum Volkslied.

Franz Josef Degenhardt, Die alten Lieder

In seinem Stück „Die alten Lieder“ hat Franz Josef Degenhardt, eine der prägenden Gestalten des Festivals, das Phänomen beschrieben: Menschen anderer Nationen singen ihre eigenen Lieder, nur wir Deutschen nicht die unseren – jedenfalls nicht soweit wir uns für politisch fortschrittlich halten.

Exemplarisch Hannes Wader, noch einer, dessen Kariere auf der Waldeck wenn nicht begonnen, aber doch Fahrt aufgemommen hat. Nach seinen eigenen Texten kam das gemeinsame Musizieren mit den angloamerikanischen „Folkfriends“, dann Lieder der Demokraten von 1848 und Lieder der deutschen Arbeiterbewegung – dann erst unpolitische deutsche Vokslieder. Zu sehr waren sie uns kontaminiert von Nazitradition und deutschen Männerchören. Und Heino…

Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal den wohltönenden Bass von Peter Rohland gehört habe. Eine wunderbare Stimme. Ein total altmodischer Gesangsstil. Schön, dass ich ihn wieder entdeckt habe. A propos entdecken: „Pitter“, wie er bei seinen jugendbewegten Freunden hieß, hat so einiges entdeckt: Landstreicherballaden, die er gemeinsam mit Schobert Schulz aufgenommen hat, Lieder der Revolution von 1848. Ich mag am liebsten seine melancholischen Eigenkompositionen.

Peter Rohland, Ich schaukle meine Müdikeit

Mit seinen jiddischen Liedern wandelte er auf den Spuren von Theodore Bikel, der als Sänger und Schauspieler eine Weltkarriere machte. Und noch eins verbindet ihn mit dem Emigranten aus Wien: Beide gehörten zu den Initiatoren eines Folkfestivals. Das eine fand von 1959 in Woodstock statt, das andere eben ab 1964 rundum die Ruine der Burg Waldeck im Hunsrück.

„Nur aus dem Zusammenfluss der beiden Ströme, der deutschen Jugendbewegung“ und des „amerikanischen Folksingings ist die neue Stilrichtung, das Phänomen des Waldeck-Festivals zu erklären“, heißt es bei Hein und Oss Kröher. In den 1960er/70er Jahren folgten kommerziell erfolgreiche Festivals und Alben mit angloamerikanischen Künstlern und Liedern. Colin Wilkie und seine Frau Shirley Hart haben ihnen auf der Waldeck den Weg bereitet.

Colin Wilkie und Shirley Hart, The Family of Man

Die größten Stars der amerikanischen Folk Revivals sind hier nicht aufgetreten: Joan Baez und Pete Seeger. Zu erleben waren aber der unglückliche politische Liedermacher Phil Ochs, Odetta (die später gemeinsam mit Harry Belafonte aufgetreten ist) und die Banjo spielende Sängerin Hedy West. Ihr bekanntestes Stück zählt zum frühen Repertoire von Joan Baez.

Hedy West, 500 Miles

Das Festival brachte seinem Motto entsprecheend Chansons und Folklore zusammen. Die internationalen Lieder waren nicht das Problem. Aber die deutschen Chansons. Politisch sollten, nein, mussten sie sein, fand ein immer größerer Teil derer, die ins Hunsrück kamen. Die Studentenbewegung hielt ihren Einzug. An der Spitze die Dogmatiker.

Sie wollten lieber diskutieren als zuhören. Degenhardt und Walter Mossmann versuchten Kompromisse, sangen ein paar Lieder. Dann stellten sie ihre Gitarren beiseite. Degenhardt propagierte eine Weile, dass Zwischentöne im Klassenkampf Krampf seien. Jahre später, als er längst der DKP beigetreten war, entdeckte er die Zwischentöne wieder. Doch sein bis heute größter „Hit“ stammt von 1965. Gestorben ist „Karratsch“, wie er unter seinen Freunden hieß, 2011 im Alter von 79 Jahren – unversöhnt mit dem Kapitalismus. Ich hätte ihn gern interviewt. Aber mit mir, einem bürgerlichen Journalisten, mochte er nicht reden.

Franz-Josef Degenhardt, Spiel nicht mit den Schmuddelkindern

Walter Mossmann ging einen anderen Weg. Er schloss sich den neuen sozialen Bewegungen an, unterstützte sie mit seinen Flugblattliedern und mit Beiträgen im Rundfunk. Mein Lieblingsstück ist lange nach der Waldeck entstanden und in badischer Mundart gehalten. Es handelt sich um die Umdichtung eines alten Volksliedes. Mossmann war übrigens der einzige westdeutsche Liedermacher, der Gnade vor dem gestrengen Urteil Wolf Biermanns fand. Dennoch ist er heute längst vergessen. Da ich eher Jäger als Sammler bin, konnte ich leider die Ausagbe der „Marburger Blätter“ nicht mehr finden, in der ich ein Gespräch mit ihm veröffentlicht habe.

Walter Mossmann, in Mueders Stübele

Der jugendliche Reinhard Mey und der sensible Kabarettist Hanns Dieter Hüsch reagierten hilflos auf die Machtübernahme der Ideologen. Hüsch wurde von der Bühne gebuht. Trotzem: Zu meinen Lieblinsliedern zählt bis heute Meys eskapistisches Lied „Und für mein Mädchen würd ich…“

Reinhard Mey, Und für mein Mädchen

Auf diese Weise ging das Festival in die Binsen. 1969 war Schluss. Bis heute finden immer wieder Gedenkveranstaltungen statt. Es gibt auch einen Peter-Rohland-Singewettstreit. Aber mehr als klingendes Museum ist bei diesen Bemühungen nicht herausgekommen.

Zum Schluss komme ich noch einmal auf die beiden, ich nenn sie die „Last men standing“ aus der Generation Waldeck zu sprechen. Reinhard Mey und Hannes Wader. Mit knapp über 80 Jahren singen sie noch immer. Des einen „Heute hier, morgen dort“, des anderen „Über den Wolken“ sind tatsächlich so etwas wie neue Volkslieder geworden. Sie sind bei Familienfeiern und Beerdigungen zu hören. Ab und an gesellt sich der unermüdliche Konstantin Wecker zu ihnen. Der kommt aus dem Süden und einer anderen Tradition. Doch das ist eine andere Geschichte…

Wader hat vor einiger Zeit offiziell vom Tourleben Abschied genommen. Mey nimmt immer noch Alben auf. Und immer wieder treten sie gemeinsam auf. Bei „Le temps des cerises“ arbeiten sie mit der Harfenistin Ulla van Daelen zusammen. Das Stück stammt aus der Zeit der Pariser Commune und wurde auch von Wolf Biermann aufgenommen. So schließt sich der Kreis dann auch gesamtdeutsch.

Wader/Mey, Temps des Cerises

Der dritte im Bunde der Überlebenden der Waldeck ist sogar noch zehn Jahre älter als Mey und Wader: Dieter Süverkrüp. Er hat in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag gefeiert. Doch als Liedermacher ist der große Sprach- und Gitarrenvirtuose seit Jahren verstummt. Die Produktion eigener Texte hat er gleich nach dem Bankrott der DDR eingestellt. Danach veröffentlichte er nur noch einige Aufnahmen von Texten des Anarchisten Erich Mühsam. Eine Art künstlerische Buße für sein politisches Leben.

Süverkrüp war schon Kommunist (in der damals illegalen KPD), als Franz Josef Degenhardt noch poetisch-versponnene Chansons schrieb. Jetzt malt der einst erfolgreiche Werbegrafiker wieder. Surealische Bilder. Die Politik hat er hinter sich gelassen. Aber auch von ihm ist etwas Volkstümliches übrig geblieben: Ein antikapitalistisches Kinderlied, angesichts des heutigen Wohnungsmarktes von erstaunlicher Aktualität.

Dieter Süverkrüp, Der Baggerführer Willibald

Meine Bilder (6) Veloy Vigil – Ohne Titel

Meine Bilder (6) Veloy Vigil – Ohne Titel

Dies Bild begleitet mich seit fast einem halben Jahrhundert. Ich habs auf der großen USA-Reise gekauft, die ich mit Uta gemacht habe, meiner ersten Frau. Die Galerie, die auf dem Poster angegeben ist, gibt’s schon lange nicht mehr. Ob wir es dort gefunden haben? Gut möglich. Denn in Colorado sind wir gewesen.

Veloy Vigil wurde 1931 während der großen Depression in Denver geboren. Gestorben ist er 1997. Seine Eltern arbeiteten auf den Zuckerrübern-Feldern von Colorado. Zum ersten Mal sei er in der katholischen Kirche mit Kunst in Berührung gekommen, berichtete der Maler einmal. Sein Interesse wurde dann so richtig auf der Highschool geweckt. Nachdem er im Marine Corps gedient hatte, konnte er mit dessen Unterstützung zwei verschiedene Kunst(hoch)schulen besuchen. Er zählte zu den Millionen unterprivilegierter Amerikaner, die von der Politik Franklin D. Roosevelts profitierten.

In Eingang zu unserem Flur korrespondiert das Poster mit einem Druck von Georia O` Keeffe: „Deers Skull with Pedermal“. Die Farbgebung ist verwandt. Viele kennen vor allem die Blumen-Motive der Malerin. Ich mag eher die Bilder, in denen sie der Landschaft des amerikanischen Südwestens ein Denkmal gesetzt hat. Oder ihre weniger bekannten Großstadt-Impressionen.

Wie das Bild von Veloy Vigil heißt, weiß ich nicht. Hab es auch im Netz nicht gefunden. Ich find faszinierend, wie er von der Wiese, ich sag mal: Prairie, bis zum Himmel mit verschiedenen Farbtönen von Blau bis Lila spielt. Und mittendrin von höchster Dynamik: Der blaue Reiter auf einem weißen Pferd. Soviel Bewegung in einem an sich ja statischen Bild hab ich selten gesehen. Vielleicht liegt es daran, dass er zu Musik malte. Ich weiß allerdings nicht, zu welcher Art.

Meist hat Veloy Vigil mit Acryl auf Leinwand gearbeitet. Seine Motive entstammen dem Leben des Volkes einer Herkunft, der Pueblo Indianer. Heute sagen wir: Der Indigenen. Fast immer sind sie bunter als das vorliegende Bild. So weit wie hier hat er sich nur selten in den Bereich der Abstraktion gewagt.

Ich hab mich auch über die Jahrzehnte hin nicht an diesem Bild satt sehen können und freue mich jedes Mal daran, wenn ich unsere Wohnung betrete…

Ein Studentenleben wird besichtigt

Ein Studentenleben wird besichtigt

„Ich hab’ es getragen sieben Jahr…“

Archibald Douglas
Theodor Fontane

Ein Studentenleben wird besichtigt

Marburg – zwei Stunden Fahrt von dem kleinen blühenden Paradies im Werra-Tal, wo wir uns gelegentlich vom Berliner Großstadt-Gewusel erholen. Sieben Jahre hab ich dort gelebt. Mehr als 40 Jahre bin ich nicht mehr da gewesen. Neulich hatte ich Zeit und Lust zu einer Stippvisite.

Zwei Gründe hatten im Mitttelpunkt der Erwägungen für die Wahl meines Studienorts gestanden: Mindestens 300 Kilometer weit weg von zuhause sollte er sein. Zweitens wollte ich Wolfgang Abendroth erleben, den „Partisanenprofessor im Land der Mitläufer“, wie Jürgen Habermas ihn genannt hat.

Zu dem ist seinerzeit auch der junge Philosoph geflohen. Max Horkheimer, dem Guru der Frankfurter Schule, schien er zu links. Damals. Also nahm Abendroth seinen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ als Habilitationsschrift an. Aber das ist eine andere Geschichte…

In meinen ersten beiden Semestern hat der alte Herr noch Vorlesungen gehalten. Meist im größten verfügbaren Hörsaal. Im Audimax. An die klare leicht schneidende Stimme kann ich mich noch erinnern. Und daran, dass er manuskriptlos frei gesprochen hat. Lange verschachtelte Sätze, die er zum Erstaunen seiner Zuhörerschaft stets korrekt zu Ende brachte.

Worum es ging? Irgendwas mit Arbeiterbewegung, in der Regel. Seine knappe „Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung“ und der schmale Band mit seiner linken Interpretation des Grundgesetzes haben bis heute Ehrenplätze in meinem abgespeckten Bücherregal.

Den Ruf als „rotes Marburg“ hat die kleine Universitätsstadt an der Lahn aber weniger wegen des großherzigen alten Mannes erhalten, sondern wegen der politisch zielstrebigsten unter denen, die sich auf ihn beriefen. Die orthodoxen Kommunisten der DKP und ihrer Studentenorganisation MSB Spartakus machten sich Teile der Uni Untertan. Politikwissenschaft vor allem und Soziologie. Von hier aus schaffte es die Partei auch in den Stadtrat. Wolfgang Abendroth blieb, was er war: Ein aufrechter linker Sozialdemokrat. Aber er ließ sie gewähren.

„Geisteswissenschaftliche Institute“ steht über dem Eingang des weitläufigen Flachbaus zu lesen, der die metall verkleideten Bürotürme im Lahntal verbindet. Wir haben damals dafür gekämpft, dass dies der „Fachbereich Gesellschaftswissenschaften“ wurde. Da waren die Mehrheiten von Studentenschaft und Lehrkörper einig.

In einer feierliche Zeremonie wurde die Philosophische Fakultät zu Grabe getragen. Ihre Dekanin Ingeborg Weber-Kellermann (Volkskundlerin, gleichwohl nicht rechts), eine quirlige kleine Frau, wie Abendroth aus der DDR geflohen, hielt im vollen Ornat eine feierliche Abschiedsrede, für die sie den berühmten Faust-Monolog satirisch umgedichtet hatte: „Habe nun ach, Philosophie…“

Heute ist längst Gras über diese Geschichte und ihre Geschichtchen gewachsen. Müll liegt in der Unterführung, die unter einer Schnellstraße zu den Räumen führt, wo ich einmal studiert habe. Auf der Treppe wuchert Unkraut. Dennoch, dies ist eine lebendige Universität. Ein „lost Place“ höchstens meine linke politische Vergangenheit.

An Wolfgang Abendroth erinnert heute in Marburg eine Brücke für Fußgänger und Radfahrer, die von der unteren Innenstadt zu seiner alten Wirkungsstädte führt. Nicht viel, aber immerhin. Ein zentraler Platz in der Stadt heißt nach einem aus der ersten Generation seiner Doktoranten. Hanno Drechsler ist schon früh in die Politik gewechselt, Oberbürgermeister geworden und es 22 prägende Jahre geblieben.

Bei einem anderen, der später wohl Abendroths Lieblingsschüler war, habe ich mein Staatsexamen abgelegt. Frank Deppe hielt jedenfalls 1985 die Trauerrede zu Wolfgang Abendroths Beerdigung in Frankfurt. Für seine Berufung gab es zu Beginn der 1970er Jahre die erste große politische Kampagne, an der ich mich beteiligt habe: „Deppe auf H 4!“.

Bekommen hat er die Stelle aber wohl weniger wegen unseres damals viel beschworenen Kampfes, als wegen eines Kuhhandels im Tausch gegen die Berufung mehrerer nicht so linker Wissenschaftler. Nach seiner Emeritierung wurde die Stelle nicht mehr besetzt. Frank Deppe lebt bis heute in Marburg. Er ist in der Linkspartei aktiv und schreibt Bücher aus sozialistischer Perspektive.

Der seinerzeit bekannteste „Marburger Schüler“ war Reinhard Kühnl. Die Auseinandersetung um seine Berufung war gerade abgeschlossen, als ich an die Uni kam. Einer der schärfsten Kritiker war Ernst Nolte gewesen, um dessen Thesen es in den 1980r Jahren den großen Historikerstreit gab, als er den Faschismus als Anwort auf den Kommunismus interpretierte.

„Zu links“ lautete sein Verdikt. Außerdem wurde moniert, dass er sich nicht mit einer großen Schrift, sondern mit mehreren kleinern Arbeiten „kumulativ“ habilitiert hatte. Abendroth musste seine ganze Energie aufwenden, um die Berufung seines Doktoranten durchzusetzen. Mir war Kühnl persönlich nicht sonderlich sympathisch. Dass er einige Jahre nach seiner Emeritierung an Alzheimer erkrankt ist, hab ich erst im Rahmen der Lektüre für diesen Text mitbekommen.

In den 1970er Jahren war er der einzige Marburger Bestseller-Autor. Er schaffte es sogar in den populären rororo-Verlag. Sein Spitzentitel über „Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus, Faschismus“ hatte eine Gesamtauflage von fast 180 000 Exemplaren. Entsprechend groß war der Andrang der Studenten. Da war es bei Frank Deppe trotz aller persönlichen Beliebtheit erheblich übersichtlicher.

Über die Grenzen der politischen Fraktionen hinaus, in welche die Studentenbewegung schnell zerfallen war, hatte sich damals eingebürgert, ein Thema erst einmal aus dem marxistischen Urschleim „abzuleiten“, ehe man zur Sache kam. Das ließ die Arbeiten oft auf etliche hundert Seiten anschwellen. „Frank“ (das „Du“ war üblich) wehrte sich mit einem Kunstgriff. „Ihr könnte so lang schreiben wir ihr wollt“, beschied er seine ExamenskandidatInnen, „aber sagt mir, welche 120 Seiten ich bewerten soll“.

Meine sentimentale Reise nach Marburg führte mich auch an den Ort, wo ich meine 120 Seiten in eine mechanische „Gabriele“-Schreibmaschine gehackt habe. Das Fenster im ersten Stock eines Gründerzeithauses, hinter dem mein Scheibtisch damals stand, war offen, als ich die Stadt besichtigte. Aber klingeln mochte ich nicht. Meine spätere erste Frau brachte die fertigen Seiten zur Reinschrift zu einer Kommilitonin, die ihr Studium zum Teil mit einer elektrischen Schreibmaschine finanzierte.

Ich hab in jenen Tagen den „Saumagen“ kennen und schätzen gelernt. Ein paar Häuser weg von unserer Wohnung gabs ein kleines Lokal, das von einem schwulen Paar betrieben wurde. Einer der beiden kam aus der Pfalz und brachte ab und an die Wurstspezilität seiner Heimat mit. Ich mochte die angebratenen Scheiben im Darm. Dass ich diese Vorliebe mit einem Bundeskanzler teilte,den ich weniger schätzte, sollte ich erst viel später erfahren. Den Appetit hats mir trotzdem nicht verdorben.

Sieben Jahre hab ich in Marburg gelebt. Aber ernsthaft studiert hab ich die wenigsten davon. Dass mein politisch dominiertes Studentenleben irgendwann ziemlich abrupt zu Ende ging, habe ich übrigens einem Mann zu verdanken, der so gar nichts mit Marburg zu zun hat. Dem ostdeutschen Dichter und Sänger Wolf Biermann.

Ich hab mich früh für politische Lieder interessiert. Zu meinen Favoriten zählte damals sein legendäres Stück „Soldat, Soldat…“ Als die DDR Biermann 1976 während eines überraschend erlaubten Gastspiels in der Bundesrepublik ebenso überraschend ausbürgerte, war ich Bildungsreferent in der Grundeinheit Gesellschafswissenschaften der Marburger DKP. Meine wichtigste Aufgabe: In unseren Sitzungen das wichtgste Ereignis dieser Tage mittels eines „politischen Referats“ einzuordnen. In diesem Fall gings darum, Biermanns Rauswurf zu rechtfertigen.

Den Posten hatte ich weniger meiner politischen Linientreue zu verdanken als meiner Faulheit. Denn die Arbeit war meist schnell getan. War ja klar, wer an den Missständen schuld war, gegen die wir uns wandten. Doch diesmal tat ich mich schwer. Der Versuch, mich mit einem „einerseits – andererseits“ aus der Affäre zu winden, mochte und mochte nicht gelingen. Ja, die Bösen haben den Vorfall ausgeschlachtet. Trotzdem waren jene, die ich gewöhnt war, als die Guten zu betrachten, diesmal die Bösen. Da gab es nichts zu relativieren. Der Umgang mit Wolf Biermann war politisch falsch. Und heimtükisch obendrein. Punkt.

Damit fand eine Entwicklung ihr Ende, die mir schon zuvor immer wieder den Vorhalt eingetragen hatte: „Du stellst die falschen Fragen, Genosse…“ Also hab ich „Gabriele“ mein Austrittsschreiben anvertraut. Ende November 1976 war mein Leben als studentischer Kommunist beendet. Die folgenden gut vier Semester hat es mir saumäßig Spaß gemacht, fast politikfrei einfach nur zu studieren. Fröhliche Wissenschaft! Von meinen bis dato Genossen hab ich mich auch gesellschaftlich schnell entfernt. Innerlich ging mein Blick immer mehr in Richtung meiner Zukunft als „bürgerlicher“ Journalist.

Bevor ich mich in meine Studierstube in einem wohlsituierten Gründerzeitbau an der Lahn zurückzog, hab ich an verschiedenen Stellen der Stadt gewohnt – angefangen 1971 im Vorort Cappel für 90 Mark im Monat. Inclusive einmal wöchentlicher Badbenutzung. Die Vermieterin zählte mit.

Auf meiner letzten Station, ehe ich mit der späteren Mutter meiner Töchter zusammengezogen bin, hab ich im zweitältesten Haus der Stadt gewohnt. Am Schuhmarkt 2. In dem Fachwerkbau gab es keine gerade Wand und keinen ebenen Boden. Mein Vormieter hatte ein Bett passgenau mit vier verschieden langen Beinen gezimmert. Geheizt wurde mittels eines Kohleofens.

Als ich einmal eines späten Winterabends von zuhause nach Marburg kam, hab ich mich mit Mütze und Mantel tief ins Bett gemümmelt. Am nächsten Morgen war mein damals noch etwas längerer Bart bretthart gefroren. Zum Glück gabs schräg gegenüber in der Unterstadt das Hallenbad, wo ich unter einer heißen Dusche auftauen konnte.

Wie nahe mein Quartier an der guten Stube des bürgerlichen Marburg lag, ist mir erst jetzt wieder ins Gedächtnis gekommen. Als Tourist hab ich im Sommer 2024 selbstverständlich das „Cafe Vetter“ aufgesucht. Es liegt am Rande der Oberstadt und eröffnet einen herrlichen Panoramablick auf das Lahntal einschließlich der nun wieder Philosophischen Fakultät.

Im großen Gastraum steht ein schwarzer Flügel. Wie früher. Zu meiner Zeit in den 1970er Jahren erklang darauf Sonntag nachmittags Kaffeehausmusik. Der Pianoman neigte jedoch dazu, sich seinen Job schön zu trinken. Weinbrand um Weinbrand wurde er lauter… bis man ihn durch einen alkohofreien Wunderknaben ersetzte, der bei „Jugend musiziert“ reüssiert hatte.

Bei unserem Besuch 2024 wäre mir auch der lauteste Anschlag egal gewesen. Ich brauchte Erholung. Für einen alten weißen Mann mit Parkinson-bedingter Gangstörung ist die Marburger Oberstadt eine mindestens so arge Herausforderung wie einst für die jungen Frauen mit den plateaubesohlten Schuhen, die in meiner studentischen Jugend angesagt waren. Ohne den stützenden Arm meiner Liebsten wäre ich womöglich über die Katzenbuckel des Kopfsteinpflasters gepurzelt – wie die Gedanken in meinem erinnerungstrunkenen Hirn…

Meine Bilder (5) Sybille Bergemann – Marx und Engels durchgesägt (*)

Meine Bilder (5) Sybille Bergemann – Marx und Engels durchgesägt (*)

Zu den Quartieren, die in Berlin eine Zeit lang meine Heimat waren, zählt eine große Wohnung im 4. Stock eines Wilmersdorfer Altbaus. Das helle Wohnzimmer mit riesigem Fenster beherbergte nach dem 2. Weltkrieg ein Künstleratelier. Hier lebte und arbeitete die Malerin und Grafikerin Gerda Rothermund (1). Ein paar Häuser weiter recht in der Güntzelstraße residierte ihr erheblich bekannterer Kollege Johannes Grützke (2), dem ich gelegentlich begegnet bin, wenn er beim Bäcker in unserem Haus sein Frühstück einnahm.

Das große, helle Wohnzimmer vorn und die kleine Küche im hinteren Teil der Wohnung trennte ein mehr als 18 Meter langer Flur. Paradiesisch, wenn man viel Platz für Bücherregale und Bilder braucht. Einerseits. Für die von uns geschätzte Geselligkeit mit Gästen beim Essen nicht so praktisch. Von einem großen Teil meinet Büchern habe ich mich einen Umzug später getrennt, als wir in eine erheblich kleinere, aber vor Mietüberraschungen sichere Genossenschaftswohnung zogen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Von den Bildern, meist Reproduktionen, verschwanden die meisten im (zum Glück trockenen) Keller unseres Neubaus. Ab und an hole ich eins hervor, zwecks Wechselausstellung. Jetzt war es wieder einmal so weit. Es handelt sich um das Plakat zu einer großen Ausstellung mit Kunst aus der DDR, die 2003 in der Berliner Nationalsgalerie gezeigt wurde. Das Bild stammt von Sibylle Bergemann, an deren Wohnung am Schiffbauerdamm mich mein Arbeitsweg mit der S-Bahn einige Jahre lang vorbeiführte, ohne dass ich ihr je begegnet wäre.

Die Fotografin (1941 – 2010) war eine der Gründerinnen der legendären Agentur Ostkreuz und zählt zu den wichtigsten Fotokünstlern nicht nur des anderen Deutschland. Sie arbeitete in der DDR unter anderem für die Zeitschriften DAS MAGAZIN und SONNTAG, vor allem aber als freie Fotografin. Meist zeigen ihre Bilder lebende Menschen – Manequins, die Mode vorführen oder die Besucher von CLÄRCHENS BALLHAUS in Berlin.

Das Bild der beiden halben Revolutionäre stammt aus einem Langzeitprojekt. Im Auftrag des Kulturministeriums der DDR dokumentierte Bergemann von 1975 bis 1986 die Entstehung des Berliner MARX/ENGELS-DENKMALS von Ludwig Engelhard – beginnend mit der Sichtung der verwendeten Steine. Das Motiv stammt aus der Phase der Aufstellung. Da das Plakat auf eine Ausstellung von Kunst in der untergegangenen DDR hinweist, habe ich lange gedacht, es zeige den Abbau der beiden steinernen Gäste.

Erst als ich den auch sonst empfehlenswerten Band OSTZEIT mit Bildern von sieben Ostkreuz-Mitgliedern von 2009 in die Hände bekam, wurde ich eines Besseren belehrt. Die Mehrheit der Besucher dürfte nicht klüger gewesen sein als ich. Aus meiner Sicht ist es gerade diese Doppeldeutigkeit, die aus dem Motiv große Kunst macht. Und genau deshalb dürften die Ausstellungsmacher das Foto von Sibylle Bergemann für ihr Plakat ausgewählt haben.

(*Offiziell hat das Bild keinen Titel)

(1) Gerda Rotermund: fembio.org

(2) Johannes Grützke: Zum Tod des Malers Johannes Grützke – Konservativer Avantgardist. deutschlandfunk.de

Warum mich eine Baustelle an meine Jugend(sünden) erinnert …

Warum mich eine Baustelle an meine Jugend(sünden) erinnert …

Warum mich eine Baustelle an meine Jugend(sünden) erinnert …

Zufälle gibt’s – die können einen beinahe auf den Gedanken bringen, dass es keine Zufälle gibt. Seit einiger Zeit wird die letzte Brache in unserer Gegend bebaut. Auf dem attraktiven Eckgrundstück nebenan entstehen… nein, eben keine teuren Eigentumswohnungen, wie meist in den Berliner Neubauten, sondern Apartments für rund 100 Auszubildende zu erschwinglichen Mieten. Bauherr ist das Kolping-Werk.

In der eher gottlosen (oder protestantisch oder muslimisch geprägten) Stadt Berlin dürften nicht viele Menschen etwas mit dem Namen anfangen können. Adolph Kolping war eine wichtige Persönlichkeit der katholischen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts. Er kümmerte sich vor allem um die jungen Gesellen auf Wanderschaft. Beerdigt ist er in Köln, wo ich lange gelebt habe und er die meiste Zeit seines Lebens gewirkt hat.

Auf den Namen bin ich allerdings in meiner Jugend in Moers gestoßen. Die Stadt liegt an jenem kleinen Teil des Niederrheins, der für Katholiken fast so sehr Diaspora ist wie Berlin. Dort stand der Vater meiner ersten Freundin (nach der Tanzstunde) der örtlichen Kolping-Familie vor. Von mir hielt er eher wenig. Zunächst jedenfalls.

Denn die erste publizistische Großtat meines Lebens war es, einen lokalen Skandal auszulösen. Ich verantwortete drei Ausgaben des „Scheinwerfer“, der Schülerzeitung des ehrwürdigen humanistischen Gymnasiums Adolfinum. Zur ersten hat mich unser Direktor noch beglückwünscht, die zweite kostete mich eine zweistündige Diskussion mit ihm. Den Vertrieb der dritten auf dem Schulgelände hat er verboten. Das war 1969.

So kam ich ins Visier des Kolping-Vaters. Denn der Eklat war der „Rheinischen Post“, der konservativen unter den damals noch drei (!) Zeitungen unsrer Stadt, einen Aufmacher im Lokalteil wert. Wir hatten provozieren wollen. Und das ist uns gelungen. Wie? Das haben wir postpubertären Schülerschreiber den Medien der Erwachsenen abgeschaut: „Sex sells“. Also musste Nacktheit auf die Titelseite.

Da es sich beim „Adolfinum“ um ein Jungenymnasium handelte, konnten wir mit baren Busen aus eigenen Beständen nicht aufwarten. In No. 2 unserer Postille hatten wir uns mit der Teilansicht eines prall aufgeblasenen Luftballons geholfen. Die Lehrer interpretierten ihn, wie sie sollten. Diesen Erfolg galt es nun zu toppen. Deshalb musste einer von uns her- oder besser gesagt hinhalten: seinen Hintern. An die heutzutage üblichen „Dickpics“ war damals nicht zu denken. Da wir bei aller Provokationslust doch eher g’schamig waren, wollte der Fotoamateur unter uns seine entblößte Kehrseite per Selbstauslöser ablichten.

Von diesem Plan erzählte ich einem ehemaligen Schulbanknachbarn, den eine frühere Missetat vom Gymnasium in eine Fotografenausbildung katapultiert hatte. „Quatsch“, sagte der spätere Reporter einer großen Illustrieren. So ein „A… ist viel zu schwer auszuleuchten“. Woher er das wusste, hab’ ich nicht gefragt. Aber da das Atelier seines Lehrherrn wochenendbedingt verwaist war, fand ich mich dort – ehe ich etwas einwenden konnte – als Fotomodell wieder. Seither weiß ich übrigens, warum von einem „Muttermal“ die Rede ist. Die meinige hat mich an einem kleinen Leberfleck erkannt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die „Rheinisch P e s t“, wie wir sagten, war selbstverständlich die Hauspostille des katholischen Vaters der Angebeteten. Also hieß es erst einmal: Kontaktverbot! Was den gestrengen Kolping-Vorsitzenden schließlich milder gestimmt hat? Ich weiß es nicht. Irgendwann landete ich jedenfalls regelmäßig neben ihm auf der Wohnzimmercouch, wenn ich seine Tochter hoch offiziell zum Spaziergang abholte. Wem da Franz Josef Degenhardts böse Kleinstadtsatire „Deutscher Sonntag“ einfällt, der oder die liegt ziemlich richtig.

Der Abholprozess pflegte sich mit der Zeit immer länger hinzuziehen. Denn der Vater meiner Nicht-Braut war ein politisch interessierter Mensch. Er fand Gefallen daran, den missratenen Verehrer seines Nachwuchses in politische Diskussionen zu verwickeln. Ich ließ mich selbstverständlich nicht lumpen, sodass die Liebste begann, über eine Begrenzung meines Kontaktes zu ihrem Erzeuger nachzudenken. Irgendwann ist diese Jugendliebe dann jenen Weg gegangen, den die meisten Jugendlieben gehen.

Ich zog zum Studium einige hundert Kilometer weit weg ins damals noch „rote“ Marburg. Meine Besuche in Moers wurden insgesamt immer seltener. Irgendwann ist meine Mutter gestorben. Seither gab es für mich keinen Grund mehr zu Besuchen am Niederrhein. Es kann allerdings vorkommen, dass ich auch als journalistischer Rentner hin und wieder eine Liedzeile summe, die der bis heute prominenteste Moerser geschrieben hat: Hanns Dieter Hüsch.

Der Kabarettist war ebenfalls ein „Adolfiner“. Aus Anhänglichkeit an seine alte Schule hat er dem „Scheinwerfer“ die Erstveröffentliung eines nostalgischen Heimatliedes geschenkt: „N’ Abend zusammen, rief man über den Zaun, lief die Wiesen entlang, schwamm in grünlichen Seen… und wurde ein schwarzes Schaf.“

Gesang, Parkinson und Politik

Als regelmäßiger Blogger hab ich mich regelmäßig mit den je aktuellen Ausgaben der „Tangodanza“ auseinander gesetzt. Diese Tradition möchte ich auch als unregelmäßiger Schreiber wieder aufnehmen. Der Text heißt: „Gesang, Parkinson und Politik“.

Vor Jahren habe ich mal mit einem alten Milongero aus Buenos Aires (den Namen hab ich vergessen) im Netz gestritten, weil er behauptete, zu Musik mit Sängerinnen könne man nicht tanzen. Es gibt ja nach wie vor viele Skurilitäten in der Tangoszene. Diese ist mir seit langem nicht mehr begegnet. Wohl aber gibt es hierzulande Tänzer, die sich grundsätzlich nicht gern zu gesungenen Tangos bewegen. Oder sie empfehlen Anfängern instrumentale Titel. Ich mag darüber jetzt jetzt nicht streiten. Aber ich finde es versäumt etwas, wer nicht tanzen mag, wenn Ada Falcon singt oder Nina Miranda oder die exaltierte Tita Merello undundund…

Zu meinen Favoritinnen unter den Lebenden zählt Noelia Tomassi. Deshalb hat es mich sehr gefreut, dass die „Tangodanza“ die Künstlerin, die in Buenos Aires geboren wurde und in Berlin lebt, auf die Titelseite ihrer aktuellen Ausgabe genommen hat – als erste Sängerin überhaupt.

Ich bin nicht so poetisch drauf wie die Autorin des Artikels. Aber mit Susanne Lagers Beschreibung kann ich etwas anfangen:

„Eine Stimme, der man sich schwer entziehen kann: Sie entfaltet sich warm und tief über dem Mikrophon, verbindet sich authentisch mit den Musikern des Orchesters, verbreitet sich wie ein anregender Duft über die Tanzfläch, umarmt die Tänzer, steigt mit natürlicher Leichtigkeit in die Höhe und erfüllt den Saal.“

Oder einen ganzen Platz. Ich habe sie zuletzt beim Tango auf dem Berliner Breitscheidplatz gehört – mit dem Pianisten Pablo Woiz und anderen internationalen Tangocracks. Noelia tritt aber auch gern mit Korey Ireland und dem Tango Community Orchester auf, einer Formation, gemischt aus Profis und avancierten Amateuren. Als Beipiel hab ich hier dennoch eine Studioaufnahme gewählt. Da singt sie „Vida Mia“, den Signaturesong von Osvaldo Fresedo. Mit dem bin ich gerade wegen des neuen Buches von Michael Lavocah beschäftigt. Aber darüber an anderer Stelle mehr.

Am nützlichsten finde ich die in Deutschland einzige Tango-Zeitschrift, wenn sie mir die Zeit stiehlt. Ironie beiseite: wenn sie mir hilft, in den Tiefen des Internet nach Musik zu suchen und nach Musikern, von denen ich (horribile dictu) noch nie gehört habe. So habe ich mit großem Gewinn über Damian Foretic gelesen, der ein besonders spannendes Projekt verfolgt. Unter dem Titel „Tangos sin arreglos“ trifft er sich immer wieder im Lokal „Pista Urbana“ in Buenos Aires mit jeweils vier renommierten Musikern, die normalerweise nicht zusammen spielen, zum gemeinsamen Improvizieren. (Zum Beispiel: „Ciclo „tangos sin Arreglo“// l pollo Ricardo // Nicolas LEDESMA. Damian Foretic). Mit seinem festen Ensemble „Septeto Eleganta Sport“ gehört er 2024 auch zum Line up des „Locura“-Festivals Anfang Mai in Insbruck, das alle Jahre wieder mit Live-Musik erfreut.

Aber es macht auch Spaß, aus durchaus traurigem Anlass nach Videos von historischen Größen der Szene zu suchen – zum Beispiel nach Hector Mayoral, der Ende Januar 2024 mit 86 Jahren gestorben ist. Ihm verdanken wir legendäe Shows wie „Tango Argentino“ und „Forever Tango“. Wer mag, kann sich seiner auch als Tänzer erinnern, zumal mit seine Ehefrau Elsa, die einige Jahre vor ihm gegangen ist.

Die Berichte über das Tangoleben in verschiedenen Städten zählen zu den Standards in der „Tangodanza“ und sind sicher wichtig für die Community, aber vor allem in den entsprechenden Gegenden. Ich habe sie schon früher meist schnell überblättert. Da greifen Podcasts weiter aus, die auch in unserer Szene immer mehr in Mode kommen. Einen davon betreibt Heinz Duschanek aus Wien: „www.Cabeceo.at“. Darin wird etwa eine Stunde lang über die tangoüblichen Themen von Technik über Sinnlichkeit bis Sozialverhalten geplaudert.

Mit derlei Produktionen habe ich ein grundsätzliches Problem: Meine Ungeduld. Der ideale „Podcast“ ist für mich immer noch das gute alte „Zeitzeichen“ des WDR. Das gab es schon Jahrzehnte, bevor der neumodische Begriff geprägt wurde. Es handelt sich um eine sorgfältig recherchierte und gebaute Radiosendung von rund 15 Minuten.

Mit besonderem Interesse habe ich in dieser Ausgabe einen Artikel über ein Thema gelesen, das in den Medien immer öfter vorkommt und mich selbst betrifft. Arndt Büssing hat über „Tango & Parkinsonerkrankte“ geschrieben. Er ist Professor für „Lebensqualität, Spiritualität und Coping“ an der Universität Witten/Herdecke und mir aus früheren Jahren als Rezensent von CDs mit nicht alltäglicher Tangomusik bekannt.

Der Text ist, ich sag mal, eher uneuphorisch gehalten. Bei ihm ist der Tango kein Allheilmittel, als das er in der Szene so oft herhalten muss. Arndt hat die wissenschaftliche Literatur zum Thema ausgewertet und forscht selber über die Auswirkungen von Tango auf Parkinson im Vergleich zu Tai Chi. So berichtet er von einer Studie, die abgebrochen wurde, weil in der Tango-Gruppe „sogar ein Trend zu einer Verschlechterung der Mobilität und der täglichen Aktivitäten“ auftrat.

Der Autor warnt vor allzu hohen Erwartungen an spezielle Tango-Kurse für Parkison-Patienten, die nicht immer halten könnten, was versprochen werde. Aber er hebt auch hevor:

„Gerade die soziale Komponente des gemeinsamen Tanzens und die Rücksicht aufeinander erleichtert die soziale Inklusion von Menschen, die sich aufgrund ihrer Beeinträchtigung aus Scham und Enttäuschung eher zurückziehen würden. Hierbei helfen natürlich eine unterstützende und stabilisierende Begleitperson und eine einladende Atmosphäre.“

Ich geb’ zu: Es kräuselt mir ein wenig den Nacken, wenn ich in dieser Weise als Patient behandelt werde. Den ersten Workshop in „Neurotango“ hab ich noch vor mir, aber einen Tangourlaub unter lauter „Normalos“ hinter mir. Ich gehe auch regelmäßig tanzen. Darüber hab ich in diesem Blog bereits berichtet unter dem Titel: „Äugeleien in der U-Bahn und auf dem Parkett…“ Offenbar zähle ich zu den minder schweren Fällen und hoffe, dass es noch eine Weile so bleibt.

Ich hab mich übrigens gefreut, Arndt Büssing in der neuen „Tangodanza“ auch als Rezensenten wieder zu finden. Er hat über die polnische Gruppe „Cuarteto Re!Tango“ geschrieben.

Zum Schluss noch etwas Politik. Nicht undiplomatisch, aber dennoch deutlich übt Lea Martin Kritik an der Ausrichtung des Vereins „pro Tango“. Sein Ziel, „Lobby-Arbeit für Tango-Profis zu betreiben“, reicht ihr nicht aus. Die Autorin und Tänzerin wirbt stattdesen dafür, dass er anstrebt, die „Kultur des Miteinanders“ zwischen z. B. Berlin und seinen Nachbarländern Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern „nachhaltig“ zu beeinflussen.

Das könne ein Beitrag zu einer politischen Veränderung sein, die über eine „reine Positionierung“ hinausgehe, findet sie. Warum das aus ihrer Sicht nötig ist? Gerade in den ländlichen Regionen fühlten sich viele Menschen vom gesellschaftlichen Leben abgehängt und seien daher für populistische Parolen empfänglich.

Ihr Traum ist es daher seit langem, „mit Tango in die kleinen Städte und aussterbenden Dörfer zu gehen, um dort, wo es an kulturellen Veranstaltungen mangelt, für Tanzvergnügen zu sorgen und nebenbei einen Dialog zwischen Stadt und Land zu unterstützen, der die Sorgen und Nöte derer ernst nmmt, die keine traditionellen Grünen-Wähler sind.“ Was diese ländliche Freizeitförderung mit dem „rebellischen Tango“ zu tun hat, den Lea in ihrem Artikel propagiert, leuchtet mir nicht unmittelbar ein. Interessant finde ich aber ihren historischen Exurs zur Förderung des Tango durch den autoritären Juan Peron ausgerechnet in der „Epoca d’ oro“ des Tango. Damit möchte ich mich an anderer Stelle ausführlicher auseinandersetzen.

Jetzt reichts erst einmal. Und ich schließe, wie ich begonnen habe – mit einem ziemlich unrebellischen Stück von Osvaldo Fresedo, der die staatlichen Subventionen nicht nötig hatte, weil er vor allem für die Reichen spielte. Diesmal von ihm selbst gespielt, mit einem besondern Gast: dem US-amerikanischen Jazz-Trompeter Dizzy Gillespie:

Tango, Tod und Freundlichkeit

Inzwischen ist es eine Weile her, dass wir Abschied genommen haben von unserer Freundin Larissa. Ich hätte sie gern in Erinnerung behalten, wie ich sie kennengelernt habe – als wunderbare, stets geschmackvoll gekleidete Tangotänzerin, mit der es eine Wonne war, sich über das Parkett zu bewegen. Selbst wenn der Tanzboden nur eine staubige, mehrfach geflickte Baufolie war, draußen in einem Park.

Doch immer wenn ich versuche, mir derlei Bilder ins Gedächtnis zu rufen, schieben sich weniger erfreuliche dazwischen. Dann sehe ich das wachsweiße Gesicht der Toten vor mir, aufgebahrt in ihrem Sarg, dem orthodoxen Ritus entsprechend. Da hatte Larissa endlich ihren Frieden gefunden – nach langem schmerzensreichen Kampf mit einem Krebs, der unaufhaltam alles Leben aus ihrem Körper gesogen hatte. Aber am Ende konnte ihr Sohn sie im Arm halten. Wenigstens das.

Als meine Mutter vor etlichen Jahre an Krebs starb, gab es in ihrem Krankenhaus noch keine Palliativ-Station. Ich war nach einigen Stunden Zugfahrt direkt vom Bahnhof gekommen und sehr müde. Der behandelnde Arzt beruhigte mich, ich könne getrost zum Schlafen nach hause gehen. Als ich am nächsten Morgen zurück ins Krankenhaus kam, war ihr Bett bereits abgezogen. Aus dem Fenster ihres Sterbezimmers konnte man in die Kinderkrebsstation sehen. Seither ist mir beim Anblick spiegelblanker Glatzen nie so recht wohl. Nach ihrer Chemotherapie trug Larissa eine Perücke.

Noch noch nie ist es mir so schwer gefallen einen Text zu schreiben wie diesmal. Wir sind es nicht gewöhnt, so direkt mit dem Tod konfrontiert zu werden. Mitten im Leben. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir einander nur selten wirklich nahe kommen im Tango. Obwohl doch gerade in diesem Tanz soviel von Nähe die Rede ist.

Der „Abrazo“ zum Beispiel, die viel gerühmte Umarmung, so eng sie auch sein mag, definiert mindestens so sehr den Abstand zweier Menschen im Tanz wie ihre Verbindung. Und die „Codigos“, die Verhaltensregeln in unseren Milongas, sollen dafür sorgen, dass wir nach drei oder vier Tänzen möglichst problemarm wieder auseinander kommen.

Das Regelwerk, mit dem die Tangogemeinde sich traditionellerweise umgibt, dient nicht zuletzt dazu, die erotischen Potentiale unseres Tanzes einzuhegen. In Buenos Aires, dem „Mekka“ des Tango, ist es sogar verpönt, mehrere Tandas in derselben Paarung zu tanzen.

Ganz so eng sehen wir das hierzulande nicht. Aber ist es wirklich ein Zufall, dass sich unter den zahlreichen Gästen, die an der Abschiedsfeier für unsere Freundin teilnahmen, nur eine kleine Minderheit von Tangotänzerinnen und Tangotänzern befand?Larissa war doch eine höchst beliebte Tänzerin gewesen.

Sicher, sie neigte nicht dazu, viel von sich her zu machen. Aber diese persönliche Zurückhaltung galt auch in ihrem sozialen Engagement, das sie für die Integration zugezogener Menschen, insbesondere aus Osteuropa sich einsetzen ließ. Trotzdem sind so viele Menschen aus diesem Teil gekommen, der so viel von ihrmen Leben ausgemacht hat. Sogar der zuständige Bezirksbürgermeister, mit dessen Verwaltung sie so manchen Strauß auszufechten hatte.

Vor zwei Jahren waren wir mit einer Gruppe von Tangofreunden auf der Suche nach einem Raum für unsere Silvesterfeier. Larissa sprang mit ihrer Beratungsstelle ein. So war sie: Nicht lange fragen, sondern zupacken und sich für die andern seinsetzen. Aber nicht einmal alle Teilnehmer dieser Feier sind zu ihrem Abschied gekommen. Ich mache niemandem einen Vorwurf. Ich halte nur fest, dass die Nähe, die der Tango uns, nun ja: vorgaukelt, nicht unbedingt persönliche Nähe bedeutet.

Womöglich macht sich obendrein bemerkbar, was in der Szene auch bei Tanzveranstaltungen immer wieder zu beobachten ist: Ein erstaunlicher Mangel an bürgerlicher Höflichkeit. Mit einer Frau zu tanzen, die schon längere Zeit gesessen hat, ohne dass sie jemand aufgefodert hat, wird allzu oft in abschätzigem Ton als „Mitleid“ abgetan. Aus meiner Sicht ist es schlicht höflich. Aber im Gefolge der 68er Bewegung hat es sich eingebürgert, solche Verhaltensweisen als „Sekundärtugenden“ abzutun. Was für ein Unsinn. Die Verhaltensregeln des Tango, die wir uns akribisch aus Buenos Aires abgeschaut haben, sind doch auch nichts anderes als eine Bemühung, die Form zu wahren.

Ich habe in jungen Jahren gelernt, dass es sich schlicht gehört, zur Beerdigung zu gehen, wenn jemand aus dem Bekanntenkreis stirbt. Das hat auch etwas mit Respekt zu tun. Gegenüber dem oder der Gestorbenen. Und selbstverständlich mit seinen oder ihren Hinterbliebenen. Bertolt Brecht hat für unseren Umgang miteinander einst ein wunderschönes Wort empfohlen: Freundlichkeit. Aber das war Jahrzehnte vor der Erfindung der (un)sozialen Netzwerke.

Bin ich jetzt zu sehr vom Thema abgekommen? Falls ich versucht haben sollte, mit meinen Erörterungen über Höflichkeit & Co. das Bild des wächsernen Antlitzes der toten Larissa aus meinenem Hirn zu vertreiben… es war vergebliche Liebesmüh’. So behalte sich unsere Freundin auf beiderlei Weise in Erinnerung – als Tote wie als Lebende.

Äugeleien in der U-Bahn…

Ich habe beschlossen, wieder mit dem Schreiben zu beginnen. Über Tango? Auch. Vor allem aber soll es darum gehen, was mir beim Flanieren auffällt und mich zum Nachdenken anregt. Meinem fortgeschrittenen Alter entsprechend werden dabei nicht zuletzt Erinnerungen zur Sprache kommen – in kürzeren oder längeren Texten. Wie’s gerade passt. Der Auftakt dreht sich allerdings doch wieder um den Tango. Und um die Krankheit, die meinen Tanz und mein Leben verändert hat.

Äugeleien in der U-Bahn und auf dem Parkett…

Als Tangotänzer hab’ ich einige Übung in nonverbaler Kommunikation. Traditionell identifizieren wir Tanzpartnerinnen und Tanzpartner, indem wir unseren Blick durch eine „Milonga“ schweifen lassen, wie wir unsere Tanzveranstaltungen nennen. „Mirada“ heißt der Fachausdruck. Haben wir jemanden auserwählt, nicken wir ihr (oder ihm) zu. Das ist der „Cabeceo“. Dass ich diese Art von Äugelei einmal im richtigen Leben würde nutzen können, hätte ich lange nicht gedacht.

Aber wenn ich heutzutage in einer vollen U-Bahn keinen Sitzplatz mehr ergattern kann, äußere ich meinen einschlägigen Wunsch auf die tangoerprobte Weise. Ich bin zwar erst 72 Jahre alt. Aber meine Standfestigkeit war, vorsichtig formuliert, schon einmal besser – zumal in ruckeligen Verkehrsmitteln. Der Grund: Ich habe den Morbus Parkinson.

Die meisten Menschen, die damit nichts zu tun haben, stellen sich darunter ein starkes unwillkürliches Zittern vor. Doch es verhält sich so ähnlich wie mit dem Wasser im Grog: Kann, aber muss nicht. Auch das Gegenteil ist möglich. Eine starke Verlangsamung der Bewegungsabläufe. Auf jeden Fall sind sie gestört, weil Nervenzellen abgestorben sind, die den Botenstoff Dopamin produzieren.

Parkinson ist – allgemein gesagt – eine neurogenereative Erkrankung. Es zeitigt einen ganzen Strauß unterschiedlicher Symptome. In der Verordnung für meine Physiotherapie hat die Neurologin meines Vertrauens die meinen kurz zusammengefasst: „Schädigung/Störung der Bewegungsfunktion; Gangstörung, kleinschrittiges Gangbild, teils mit Fallneigung“.

Wer mehr über diese Krankheit wissen will: Es gibt im Netz eine Reihe von Adressen, unter denen man nachschlagen kann. Seit ich dieser Versuchung gelegentlich nicht zu widerstehen vermag, kann ich aber auch verstehen, warum Ärzte mehr oder weniger sichtbar mit den Augen rollen, wenn ihre Patienten von einschlägigen Lesefrüchten berichten. Denn da ist fast alles zu finden… und das Gegenteil. Wenn ich bei Sinnen bin, halte ich mich daher fern von derlei Zeitvertreib und an den Sachverstand meiner Medizinerin.

Die „Fallneigung“ hab ich schon früh ausprobiert. Wie aus der hektischen Zeit meiner Berufstätigkeit als Journalist gewohnt, bin ich eines Abends nach dem Einkaufen mit scharfem Schnitt in die Kurve zu unserem Haus eingebogen – und prompt lang hingeschlagen. Die Krankheit beeinträchtigt nämlich auch den Meidreflex, die Arme schützend nach vorn zu strecken. Hinter mir kam zufällig ein junger Mann, der mir mit den Worten aufhalf: „Ich kenn’ das. Mein Vater hat auch Parkinson.“ Da hatte ich zum ersten Mal meine Diagnose. Ohne ärztliche Expertise. Praktisch. Lebensweltlich.

Bis die Chose allerdings medizinisch klar war, sollte es noch eine Weile und etliche Untersuchungen dauern, einschließlich eines Besuchs in der nuklearmedizinischen Abteilung der Berliner Charitee. Denn es gibt eine Reihe von Krankheiten mit ähnlichen Symptomen. Linda Ronstadt zum Beispiel, eine meiner Lieblingssängerinnen, beendet ihre Karriere wegen einer Parkinson-Diagnose. Doch irgendwann stellte sich heraus, dass es sich um eine Konkurrenz-Krankheit mit einem komplizierten Namen handelte, den ich mir nicht gemerkt habe.

Aber es gibt eine Reihe von Prominenten mit gesicherten Diagnosen. Der bekannteste hierzulande dürfte der Quizmaster Frank Elster sein. Der Erfinder von „Wetten das…“ Gelegentlich berichtet er darüber in Talkshows. Er kann sich ein Team vn Betreuern leisten, mit dem er um die Welt reist. Der Chef des Berliner Recycling-Unternehmens ALBA, Eric Schweitzer, trat vor einiger Zeit von der Spitze des Unternehmens ab, bleibt aber aktiv. Er habe „ein paar Monate gebraucht“, ehe er seine Erkrankung begriffen habe, sagte er anschießend – und vor allem: bis sie akzeptiert habe. Er müsse nun weniger Stress haben und auf sich achten. So viel Stress wie ein vielbeschäftigter Unternehmer hab ich sicher nicht. Aber auf mich achten muss ich schon.

Denn es ist für mich keineswegs immer einfach, nicht mit dem Schicksal zu hadern. Die Krankheit ist nämlich unheilbar. Die gute Nachricht: Anders als Multiple Sklerose entwickelt sie sich nicht in Schüben zum Schlechteren. Jedenfalls nicht notwendigerweise. Um noch einmal meine Neurologin zu zitieren: „Damit können Sie 90 werden.“ Das hat in meiner Familie noch niemand geschafft. Auch ohne Parkinson.

Er rechne mit einer Verstärung seiner Symptome, hat Eric Schweitzer zu Protokoll gegeben. Das musss ich auch. Etwa zweieinhalb Jahre nach meiner Diagnose befinde ich mich noch mitten im „Honeymoon“, wie ich dieser Tage bei meinem ersten Besuch einer Selbsthilfegruppe für Parkinson-Patienten und ihre Angehörigen erfahren habe.Diese Flitterwochen dauern aller Erfahrung nach etwa fünf Jahre. Danach wird es richtig spannend.

Nun also zum Tango. Früher habe ich getanzt, weil es mir Spaß macht. Daran hat sich nichts geändert. Aber inzwischen tanze ich auch, weil es meiner Gesundheit gut tut. Um beweglich zu bleiben, mache ich Gymnastik. Dazu ein wenig Kraftsport mit Geräten. Aber wie sagte der ehemalige Boxer Henry Maske neulich in einer Talkshow: Training macht keinen Spaß. Was für ein Glück, dass ich den Tango habe. Andere Kranke beneiden mich darum.

Aber mit meinen Fähigkeiten haben sich auch meine Vorlieben geändert. Früher war die Milonga mein Lieblingstanz – wahrscheinlich auch deshalb, weil sie in mir Erinnerungen an den Quickstepp des Ballroom-Dancing weckte. Heute tanze ich am liebsten Vals. Weil der Dreier-Takt übersichtlicher ist und ich mich in die Musik, wie sag’ ich’s am besten: hinein schmiegen kann. Ich bevorzuge Stücke mittleren Tempos. Näher am Langsamen als am Wiener Walzer. Im Tango sind sie zuverlässig im Repertoire von Francisco Canaro zu finden.

Zu den Vorzügen des Tango gehört, dass die Tanzenden im Rahmen des Metrums ihr Tempo selbst bestimmen können: Also wird im Vals nur auf die „Eins“ ein Schritte gemacht. Oder in den Stücken mit gerader Schlagzahl nur auf jeden zweiten Taktschlag. Wer im Vollbesitz seiner Kräfte ist, vermag dann sogar innerhalb eines Stückes das Tempozu variieren. Früher bin ich gern schneller geworden – etwa in der Milonga. Dass ich das heute nicht mehr schaffe, lässt mich gelegentlich mit meinem Schicksal hadern. Dann muss ich mich innerlich zur Ordnung rufen. Denn es bringt nichts – außer schlechter Stimmung.

Ich habe schon in gesunden Tagen nicht zu den Tänzern gehört, die erst um Mitternacht so richtig loslegen. Unter Tangofreaks gilt die Nachtaktivität als Ausweis von „Argentinidad“. Denn in Buenos Aires beginnen die Milongas selten vor 23 Uhr. Live-Musik fängt meistens erst eine Stunde später an. Auch hierzulande klappt kaum ein Tango-DJ sein Notebook vor 21 Uhr auf. Frühestens. Tanguras und Tangueros, die sich zur Elite der Zunft zählen, komen zwei Stunden später. Da bin ich längst platt.

Zu Beginn meiner Krankheit hab ich versucht, mich unter die frühen Vögel zu mischen. Aber viel mehr als eine Stunde hab’ ich nicht geschafft, ohne dass die Mühe das Vergnügen überwogen hätte. Das lohnt den Eintritt nicht, zumal er nach der Pandemie allerorten teurer geworden ist. Bleiben die Nachmittagsveranstaltungen. Die mag die gesunde Frau an meiner Seite ohnehin lieber.

Aber auch das hat die Krankeit verändert: Früher bin ich oft allein tanzen gewesen. Wenn es mein Beruf erlaubt hat, bis zu drei oder vier Mal in der Woche. Heute hab ich die Liebste lieber dabei. Das heißt nicht, dass ich die ganze Zeit mit ihr tanze. Aber mit ihr als „back up“ fühle ich mich sicherer. Der Kick, den mir einst das Tanzen mit fremden Frauen gegeben hat, ist der Unsicherheit gewichen, ob ich mit meinen mählich schwindenden Kräften ihren Ansprüchen noch zu genügen vermag.

In den Milongas, die ich normalerweise besuche, wissen inzwischen die meisten meiner Tanzpartnerinnen um meine Krankheit. Tanzen sie nun aus Mitleid mit mir – oder weil es ihnen Spaß macht, Parkinson hin oder her? Ich weiß es nicht. Doch ich mag mir mit Grübelei darüber nicht die Laune verderben. Lieber genieße ich es, wenn eine Frau zu mir an den Platz kommt und mich mit den Worten auffordert: „Es ist so schön, mit Dir die langsamen Stücke zu tanzen.“

Meine Bilder (4): George Bellows – Dempsey and Firpo

Boxing History: Dempsey vs. Firpo – World Boxing Association

Obwohl der neueste Text in diesem Blog ebenfalls von Bildern handelt, will ich an meinem Grundsatz festhalten, regelmäßig Bilder vorzustellen, die mich umgeben. Das bietet sich in diesem Fall auch deshalb an, weil das Objekt meiner Wahl in scharfem Kontrast zu den Werken Jürgen Kühnes steht. Ich habe den Druck vor Jahren aus den USA mitgebracht.

Das Bild heißt „Dempsey and Firpo“. Der Maler George Bellows (1882 – 1925) zeigt eine Szene aus der ersten Runde des Boxkampfes um die Weltmeisterschaft im Schwergewicht zwischen dem US-amerikanischen Titelträger Jack Dempsey und seinem argentinischen Herausforderer Luis Firpo vom 14. September 1923. Nach einem wuchtigen Schwinger Firpos verlor Dempsey das Gleichgewicht und stürzte durch die Seile – mitten auf die Tische der Reporter am Ring. Deshalb hieß das Bild zunächst auch „Dempsey trough the Ropes“.

Mit der regelwidrigen Hilfe von Journalisten gelang es dem Champ jedoch, nach 14 Sekunden zurück in das Kampfquadrat zu klettern. In der folgenden Runde schlug er Firpo Ko. Insgesamt dauerte die wilde Prügelei nur gut vier Minuten – mit zwölf Niederschlägen. Zwei davon für Dempsey. Firpo war in der ersten Runde bereits sechs Mal eingeknickt, als er seinen historischen Treffer landete. George Bellows hat ihn unsterblich gemacht. Immer wieder taucht sein Bild in Film, Fernsehen und Literatur auf. Noch Jahrzehnte später ist es nicht nur in einer Szene von Martin Scorceses berühmten Mafia-Drama „Godfellas“ zu sehen, sondern auch in einer Episode der Trickfilmserie „Die Simpsons“.

Wer mag, kann sich nun einen Film anschauen, der die Ring- Schlacht zeigt – einschließlich zweier Zeitlupen. Genaue Beobachter werden einen wichtigen Unterschied zwischen Bild und Realität bemerken: Im Film trifft Firpo mit der Rechten. Der Maler zeigt einen Schwung der linken Hand. Es gibt Kritiker, die behaupten, George Bellows habe den Kampf gar nicht gesehen. Große Kunst bleibt sein Werk trotzdem.

PS 1: Freunde des argentinischen Tango könnten beim Namen „Firpo“ stutzig geworden sein. Doch der Boxer Luis Firpo war mit dem berühmten Orchesterleiter Roberto Firpo, dem wir das klassische Arrangement von „La Cumparsita“ verdanken, weder verwandt noch verschwägert. Der trainingsfaule Faustkämpfer hatte mit dem Tango nur insofern zu tun, als er zu einer Clique wohlhabender junger Männer gehörte, die eine Zeit lang mit Carlos Gardel nächtens um die Häuser zogen.

PS 2: Links unten an den Bildrand hat der Maler sich selbst unter die Reporter gesetzt.

Ein malender Flaneur

„Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen“, beginnt Franz Hessels berühmtes Buch „Spazieren in Berlin“. „Man wird überspült von der Eile der andern, es ist ein Bad in der Brandung.“ Doch schon Ende der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als Gehsteige noch Fußgängern vorbehalten und elektrische Roller nicht erfunden waren, klagt er, seine „lieben Berliner Mitbürger“, machten ihm die gemächliche, ziellose Fortbewegung nicht so leicht. „Hierzulande muss man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin.“

Jürgen Kühne kennt das Problem. Auch er stört immer wieder den Fluss der Eilenden um ihn herum, wenn er eine Stadt gehend sich erschließt. Ein wandelndes Hindernis. Er hat Paris, Buenos Aires und Madrid be

reist, in London und New York gelebt. Er liebt Städte. Fremde, aber auch die eigene. Die meiste Zeit des Jahres lebt er in Berlin, wo er bis zu seiner Pensionierung Professor für Metallkunde war – wenn es ihn nicht gerade in seinen Heimathafen nach Rostock zieht, wo er studiert und gearbeitet hat.

Er wolle „den Ersten Blick“ auch auf die Stadt, in der er lebe, „gewinnen oder wiederfinden…“, hat Franz Hessel einst geschrieben – der „Erste“ mit einem großem „E“. Der erste Blick auch beim wiederholten Hinschauen? Die verrätselte Formulierung bezeichnet den Versuch des flanierenden Schriftstellers, seine Unbefangenheit zu bewahren, auch oder gerade, wenn eine Umgebung ihm bereits vertraut ist. Der erste Blick des Malers ist erst recht keine einfache oder gar naive Angelegenheit. Er setzt sich aus wiederholten Anschauungen zusammen. Der Künstler schlüpft in die Rolle seines Publikums, dem er versucht, seine Wirklichkeit auf neue Weise nahe zu bringen. In diesem Sinn tritt er seinen Gegenständen im Wege einer reflektierten Naivität gegenüber. Vorstudien, Skizzen auf Papier oder Leinwand sind Jürgen Kühnes Sache nicht. Er umkreist seine Motive, bis er eine Perspektive gefunden hat, die ihm passend erscheint. Dann beginnt er zu malen.

Jürgen Kühne ist Autodidakt. Er hat nie eine Kunstakademie besucht oder auch nur einen Malkurs. Aber frühzeitig hat er „gekritzelt“, wie er es nennt. So hat er in der Schulpause die Kirche auf die Tafel gezeichnet, die er aus dem Klassenfenster sehen konnte. Auch seine Mutter stand ihm früh „Modell“. Zielgerichtet zu Malen hat er nach seinen Worten erst vor etwa 25 Jahren begonnen. Aber seitdem hat es ihn nicht mehr losgelassen. Er malt in kräftigen Farben mit schnellen Strichen und einem eher breiten Pinsel. Aquarell ist ihm zu matt. Ölfarben zu aufwändig. Der flüssige Acrylkunststoff trocknet schnell. Das kommt, wie er sagt, seiner Ungeduld entgegen. Wenn ihm etwas nicht gelungen erscheint, wird’s halt übermalt. Schnell hat er sein Standardformat gefunden: 80×80 cm oder 100×100 cm. Durch dieses „Nadelöhr“ muss die Realität, soll sie auf seine Leinwand passen. Schon das Format verändert die Welt, versetzt im Zweifelsfall Straßenschilder, Bäume, verzerrt gar Gebäude.

Ist möglicherweise Kunst von 1 Person und außen

Jürgen Kühne malt meist gegenständlich. Ist das Naturalismus, Realismus? Auf jeden Fall ist es die Welt, wie er sie sieht und wie er ihr mit seiner Phantasie und seinem Pinsel eine eigene Gestalt gibt. In einem zentralen Punkt übrigens unterscheidet sich der malende Flaneur Jürgen Kühne von dem schreibenden. Franz Hessel ließ das historische Berlin von Schinkel und Co. links liegen. Er kümmerte sich um die Moderne seiner Zeit – der preußische Dom war nicht sein Ding. Er interessierte sich für die Kathedralen des Industriezeitalters. Jürgen Kühne dagegen führt uns an zentrale Orte des historischen, des repräsentativen Berlin: Brandenburger Tor, Zeughaus, Gendarmenmarkt, , Stadtschloss, Lustgarten mit Dom und Altem Museum. Vielleicht hängt das mit seiner Vergangenheit in der DDR zusammen. Dort war er politisch eher konservativer Mensch in der Minderheit – jedenfalls was seine Möglichkeiten öffentlicher Artikulation anging. Der einst staatlich verordnete sozialistische Realismus ist ihm bis heute ein Graus. Den glatten Fassaden der sozialistischen Zweck- und Schlichtbauten kann er nichts abgewinnen. Womöglich findet er deshalb auch keinen künstlerischen Zugang zur anspruchsvollen architektonischen Moderne des Westens. „Ich hab mir wirklich Mühe gegeben, die Philharmonie zu malen“, berichtet et er. Vergeblich. „Es ist nichts Gescheites daraus geworden.“

Es sind die historischen Gebäude, die Jürgen Kühnes Blick immer wieder neu auf sich ziehen. Die Kapitelle und Verzierungen, die vielen Fenster mit ihren einzeln gefassten kleinen Scheiben. Es sei die Kunst, die vielen Details scheinbar verschmiert zu malen, begeistert er sich, um doch im Auge der Betrachter zusammen gesetzt erkennbar werden. Stellvertretend für uns, die Betrachter, lässt er immer wieder Menschen durch seine Bilder flanieren. Aber das sind keine realistischen Darstellungen. So leer wie „sein“ Pariser Platz oder der Gendarmenmarkt ist es dort nie. Jedenfalls nicht bei Tag. Aber seine künstlerische Welt erschöpft sich nicht in einem wiederbelebten Preußentum. Auf dem Weg zwischen Berlin und Rostock lässt er sich von der Weite der flachen Landschaft mit ihren weiten Raps und Mohnfeldern inspirieren. Darüber hinaus finden auch immer wieder Segelschiffe Eingang in seine Kunst. Es gibt es noch eine Leidenschaft, die zu pflegen er im Zeitalter von Corona besonders vermisst. Jürgen Kühne ist ein leidenschaftlicher Tänzer des argentinischen Tango. Diesen Tanz und sein besonderes „Milljöh“ macht er immer wieder zum Gegenstand seiner Bilder – an die 50 sind es inzwischen, präsentiert in mehreren Ausstellungen. Doch Tango ist ein Paartanz, in dem die Partnerinnen und Partner einander sehr nahe kommen und dennoch häufig wechseln – also das gerade Gegenteil dessen, was die hoch infektiöse Pandemie uns abverlangt. Da ist es erheblich gesünder, durch das spätpreußische Berlin zu flanieren.

Gerade in der jetzigen eher grauen Jahreszeit, vermag seine Ausstellung im Nachbarschaftshaus Friedenau einen farbreichen Kontrast zur allgemeinen Tristesse zu setzen. Sie ist noch bis Ende Februar zu sehen.