Tango, Tod und Freundlichkeit

Inzwischen ist es eine Weile her, dass wir Abschied genommen haben von unserer Freundin Larissa. Ich hätte sie gern in Erinnerung behalten, wie ich sie kennengelernt habe – als wunderbare, stets geschmackvoll gekleidete Tangotänzerin, mit der es eine Wonne war, sich über das Parkett zu bewegen. Selbst wenn der Tanzboden nur eine staubige, mehrfach geflickte Baufolie war, draußen in einem Park.

Doch immer wenn ich versuche, mir derlei Bilder ins Gedächtnis zu rufen, schieben sich weniger erfreuliche dazwischen. Dann sehe ich das wachsweiße Gesicht der Toten vor mir, aufgebahrt in ihrem Sarg, dem orthodoxen Ritus entsprechend. Da hatte Larissa endlich ihren Frieden gefunden – nach langem schmerzensreichen Kampf mit einem Krebs, der unaufhaltam alles Leben aus ihrem Körper gesogen hatte. Aber am Ende konnte ihr Sohn sie im Arm halten. Wenigstens das.

Als meine Mutter vor etlichen Jahre an Krebs starb, gab es in ihrem Krankenhaus noch keine Palliativ-Station. Ich war nach einigen Stunden Zugfahrt direkt vom Bahnhof gekommen und sehr müde. Der behandelnde Arzt beruhigte mich, ich könne getrost zum Schlafen nach hause gehen. Als ich am nächsten Morgen zurück ins Krankenhaus kam, war ihr Bett bereits abgezogen. Aus dem Fenster ihres Sterbezimmers konnte man in die Kinderkrebsstation sehen. Seither ist mir beim Anblick spiegelblanker Glatzen nie so recht wohl. Nach ihrer Chemotherapie trug Larissa eine Perücke.

Noch noch nie ist es mir so schwer gefallen einen Text zu schreiben wie diesmal. Wir sind es nicht gewöhnt, so direkt mit dem Tod konfrontiert zu werden. Mitten im Leben. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir einander nur selten wirklich nahe kommen im Tango. Obwohl doch gerade in diesem Tanz soviel von Nähe die Rede ist.

Der „Abrazo“ zum Beispiel, die viel gerühmte Umarmung, so eng sie auch sein mag, definiert mindestens so sehr den Abstand zweier Menschen im Tanz wie ihre Verbindung. Und die „Codigos“, die Verhaltensregeln in unseren Milongas, sollen dafür sorgen, dass wir nach drei oder vier Tänzen möglichst problemarm wieder auseinander kommen.

Das Regelwerk, mit dem die Tangogemeinde sich traditionellerweise umgibt, dient nicht zuletzt dazu, die erotischen Potentiale unseres Tanzes einzuhegen. In Buenos Aires, dem „Mekka“ des Tango, ist es sogar verpönt, mehrere Tandas in derselben Paarung zu tanzen.

Ganz so eng sehen wir das hierzulande nicht. Aber ist es wirklich ein Zufall, dass sich unter den zahlreichen Gästen, die an der Abschiedsfeier für unsere Freundin teilnahmen, nur eine kleine Minderheit von Tangotänzerinnen und Tangotänzern befand?Larissa war doch eine höchst beliebte Tänzerin gewesen.

Sicher, sie neigte nicht dazu, viel von sich her zu machen. Aber diese persönliche Zurückhaltung galt auch in ihrem sozialen Engagement, das sie für die Integration zugezogener Menschen, insbesondere aus Osteuropa sich einsetzen ließ. Trotzdem sind so viele Menschen aus diesem Teil gekommen, der so viel von ihrmen Leben ausgemacht hat. Sogar der zuständige Bezirksbürgermeister, mit dessen Verwaltung sie so manchen Strauß auszufechten hatte.

Vor zwei Jahren waren wir mit einer Gruppe von Tangofreunden auf der Suche nach einem Raum für unsere Silvesterfeier. Larissa sprang mit ihrer Beratungsstelle ein. So war sie: Nicht lange fragen, sondern zupacken und sich für die andern seinsetzen. Aber nicht einmal alle Teilnehmer dieser Feier sind zu ihrem Abschied gekommen. Ich mache niemandem einen Vorwurf. Ich halte nur fest, dass die Nähe, die der Tango uns, nun ja: vorgaukelt, nicht unbedingt persönliche Nähe bedeutet.

Womöglich macht sich obendrein bemerkbar, was in der Szene auch bei Tanzveranstaltungen immer wieder zu beobachten ist: Ein erstaunlicher Mangel an bürgerlicher Höflichkeit. Mit einer Frau zu tanzen, die schon längere Zeit gesessen hat, ohne dass sie jemand aufgefodert hat, wird allzu oft in abschätzigem Ton als „Mitleid“ abgetan. Aus meiner Sicht ist es schlicht höflich. Aber im Gefolge der 68er Bewegung hat es sich eingebürgert, solche Verhaltensweisen als „Sekundärtugenden“ abzutun. Was für ein Unsinn. Die Verhaltensregeln des Tango, die wir uns akribisch aus Buenos Aires abgeschaut haben, sind doch auch nichts anderes als eine Bemühung, die Form zu wahren.

Ich habe in jungen Jahren gelernt, dass es sich schlicht gehört, zur Beerdigung zu gehen, wenn jemand aus dem Bekanntenkreis stirbt. Das hat auch etwas mit Respekt zu tun. Gegenüber dem oder der Gestorbenen. Und selbstverständlich mit seinen oder ihren Hinterbliebenen. Bertolt Brecht hat für unseren Umgang miteinander einst ein wunderschönes Wort empfohlen: Freundlichkeit. Aber das war Jahrzehnte vor der Erfindung der (un)sozialen Netzwerke.

Bin ich jetzt zu sehr vom Thema abgekommen? Falls ich versucht haben sollte, mit meinen Erörterungen über Höflichkeit & Co. das Bild des wächsernen Antlitzes der toten Larissa aus meinenem Hirn zu vertreiben… es war vergebliche Liebesmüh‘. So behalte sich unsere Freundin auf beiderlei Weise in Erinnerung – als Tote wie als Lebende.

2 Antworten auf „Tango, Tod und Freundlichkeit“

  1. daß es sich gehört, zur Beerdigung zu gehen, aus Respekt vor den Toten…. – Ja, aus Respekt und auch -natürlich – ganz persönlichen Motiven. Es bedeutet, ganz für sich Abschied nehmen, gleich ob Familie, Freunde Bekannte, Tanzpartner. Und sicher stellt für manchen von uns einer Trauerfeier, kirchlich oder weltlich, etwas befremdliches dar. die älteste Generation hat die Pflicht, die Alten würdig zu Grabe zu tragen. Rituale helfen dabei.
    Wie wichtig ist es aber, wer aus welchem Lebensbereich kommt? Eigentlich ist das nicht wichtig. Und von Larissa haben sich viele Wegbegleiter verabschiedet, auch aus der Tango-Community, viel mehr, als ich selbst erwartet habe. Und diejenigen, die gekommen waren und diejenigen, die im Gedenken an Larissa innegehalten haben, sind dadurch ein kleines Stück näher zusammen gerückt.
    Wie ist das im Tango? Wie auch sonst im Leben: mit manchen Menschen tanzen wir, manche sind uns sympathisch, mit anderen baut sich eine nähere Verbindung auf, mit noch anderen entstehen Freundschaften oder gar eine Beziehung. Seien wir dem Tango einfach dankbar, daß er uns dies ermöglicht, uns zusammen bringt, uns Möglichkeiten eröffnet. Und dann kümmern wir uns auch, wenn jemand krank ist, Hilfe braucht, oder wenn wir Abschied nehmen müssen von denen, die uns vorausgehen.

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