Tango, Tod und Freundlichkeit

Inzwischen ist es eine Weile her, dass wir Abschied genommen haben von unserer Freundin Larissa. Ich hätte sie gern in Erinnerung behalten, wie ich sie kennengelernt habe – als wunderbare, stets geschmackvoll gekleidete Tangotänzerin, mit der es eine Wonne war, sich über das Parkett zu bewegen. Selbst wenn der Tanzboden nur eine staubige, mehrfach geflickte Baufolie war, draußen in einem Park.

Doch immer wenn ich versuche, mir derlei Bilder ins Gedächtnis zu rufen, schieben sich weniger erfreuliche dazwischen. Dann sehe ich das wachsweiße Gesicht der Toten vor mir, aufgebahrt in ihrem Sarg, dem orthodoxen Ritus entsprechend. Da hatte Larissa endlich ihren Frieden gefunden – nach langem schmerzensreichen Kampf mit einem Krebs, der unaufhaltam alles Leben aus ihrem Körper gesogen hatte. Aber am Ende konnte ihr Sohn sie im Arm halten. Wenigstens das.

Als meine Mutter vor etlichen Jahre an Krebs starb, gab es in ihrem Krankenhaus noch keine Palliativ-Station. Ich war nach einigen Stunden Zugfahrt direkt vom Bahnhof gekommen und sehr müde. Der behandelnde Arzt beruhigte mich, ich könne getrost zum Schlafen nach hause gehen. Als ich am nächsten Morgen zurück ins Krankenhaus kam, war ihr Bett bereits abgezogen. Aus dem Fenster ihres Sterbezimmers konnte man in die Kinderkrebsstation sehen. Seither ist mir beim Anblick spiegelblanker Glatzen nie so recht wohl. Nach ihrer Chemotherapie trug Larissa eine Perücke.

Noch noch nie ist es mir so schwer gefallen einen Text zu schreiben wie diesmal. Wir sind es nicht gewöhnt, so direkt mit dem Tod konfrontiert zu werden. Mitten im Leben. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir einander nur selten wirklich nahe kommen im Tango. Obwohl doch gerade in diesem Tanz soviel von Nähe die Rede ist.

Der „Abrazo“ zum Beispiel, die viel gerühmte Umarmung, so eng sie auch sein mag, definiert mindestens so sehr den Abstand zweier Menschen im Tanz wie ihre Verbindung. Und die „Codigos“, die Verhaltensregeln in unseren Milongas, sollen dafür sorgen, dass wir nach drei oder vier Tänzen möglichst problemarm wieder auseinander kommen.

Das Regelwerk, mit dem die Tangogemeinde sich traditionellerweise umgibt, dient nicht zuletzt dazu, die erotischen Potentiale unseres Tanzes einzuhegen. In Buenos Aires, dem „Mekka“ des Tango, ist es sogar verpönt, mehrere Tandas in derselben Paarung zu tanzen.

Ganz so eng sehen wir das hierzulande nicht. Aber ist es wirklich ein Zufall, dass sich unter den zahlreichen Gästen, die an der Abschiedsfeier für unsere Freundin teilnahmen, nur eine kleine Minderheit von Tangotänzerinnen und Tangotänzern befand?Larissa war doch eine höchst beliebte Tänzerin gewesen.

Sicher, sie neigte nicht dazu, viel von sich her zu machen. Aber diese persönliche Zurückhaltung galt auch in ihrem sozialen Engagement, das sie für die Integration zugezogener Menschen, insbesondere aus Osteuropa sich einsetzen ließ. Trotzdem sind so viele Menschen aus diesem Teil gekommen, der so viel von ihrmen Leben ausgemacht hat. Sogar der zuständige Bezirksbürgermeister, mit dessen Verwaltung sie so manchen Strauß auszufechten hatte.

Vor zwei Jahren waren wir mit einer Gruppe von Tangofreunden auf der Suche nach einem Raum für unsere Silvesterfeier. Larissa sprang mit ihrer Beratungsstelle ein. So war sie: Nicht lange fragen, sondern zupacken und sich für die andern seinsetzen. Aber nicht einmal alle Teilnehmer dieser Feier sind zu ihrem Abschied gekommen. Ich mache niemandem einen Vorwurf. Ich halte nur fest, dass die Nähe, die der Tango uns, nun ja: vorgaukelt, nicht unbedingt persönliche Nähe bedeutet.

Womöglich macht sich obendrein bemerkbar, was in der Szene auch bei Tanzveranstaltungen immer wieder zu beobachten ist: Ein erstaunlicher Mangel an bürgerlicher Höflichkeit. Mit einer Frau zu tanzen, die schon längere Zeit gesessen hat, ohne dass sie jemand aufgefodert hat, wird allzu oft in abschätzigem Ton als „Mitleid“ abgetan. Aus meiner Sicht ist es schlicht höflich. Aber im Gefolge der 68er Bewegung hat es sich eingebürgert, solche Verhaltensweisen als „Sekundärtugenden“ abzutun. Was für ein Unsinn. Die Verhaltensregeln des Tango, die wir uns akribisch aus Buenos Aires abgeschaut haben, sind doch auch nichts anderes als eine Bemühung, die Form zu wahren.

Ich habe in jungen Jahren gelernt, dass es sich schlicht gehört, zur Beerdigung zu gehen, wenn jemand aus dem Bekanntenkreis stirbt. Das hat auch etwas mit Respekt zu tun. Gegenüber dem oder der Gestorbenen. Und selbstverständlich mit seinen oder ihren Hinterbliebenen. Bertolt Brecht hat für unseren Umgang miteinander einst ein wunderschönes Wort empfohlen: Freundlichkeit. Aber das war Jahrzehnte vor der Erfindung der (un)sozialen Netzwerke.

Bin ich jetzt zu sehr vom Thema abgekommen? Falls ich versucht haben sollte, mit meinen Erörterungen über Höflichkeit & Co. das Bild des wächsernen Antlitzes der toten Larissa aus meinenem Hirn zu vertreiben… es war vergebliche Liebesmüh’. So behalte sich unsere Freundin auf beiderlei Weise in Erinnerung – als Tote wie als Lebende.

Äugeleien in der U-Bahn…

Ich habe beschlossen, wieder mit dem Schreiben zu beginnen. Über Tango? Auch. Vor allem aber soll es darum gehen, was mir beim Flanieren auffällt und mich zum Nachdenken anregt. Meinem fortgeschrittenen Alter entsprechend werden dabei nicht zuletzt Erinnerungen zur Sprache kommen – in kürzeren oder längeren Texten. Wie’s gerade passt. Der Auftakt dreht sich allerdings doch wieder um den Tango. Und um die Krankheit, die meinen Tanz und mein Leben verändert hat.

Äugeleien in der U-Bahn und auf dem Parkett…

Als Tangotänzer hab’ ich einige Übung in nonverbaler Kommunikation. Traditionell identifizieren wir Tanzpartnerinnen und Tanzpartner, indem wir unseren Blick durch eine „Milonga“ schweifen lassen, wie wir unsere Tanzveranstaltungen nennen. „Mirada“ heißt der Fachausdruck. Haben wir jemanden auserwählt, nicken wir ihr (oder ihm) zu. Das ist der „Cabeceo“. Dass ich diese Art von Äugelei einmal im richtigen Leben würde nutzen können, hätte ich lange nicht gedacht.

Aber wenn ich heutzutage in einer vollen U-Bahn keinen Sitzplatz mehr ergattern kann, äußere ich meinen einschlägigen Wunsch auf die tangoerprobte Weise. Ich bin zwar erst 72 Jahre alt. Aber meine Standfestigkeit war, vorsichtig formuliert, schon einmal besser – zumal in ruckeligen Verkehrsmitteln. Der Grund: Ich habe den Morbus Parkinson.

Die meisten Menschen, die damit nichts zu tun haben, stellen sich darunter ein starkes unwillkürliches Zittern vor. Doch es verhält sich so ähnlich wie mit dem Wasser im Grog: Kann, aber muss nicht. Auch das Gegenteil ist möglich. Eine starke Verlangsamung der Bewegungsabläufe. Auf jeden Fall sind sie gestört, weil Nervenzellen abgestorben sind, die den Botenstoff Dopamin produzieren.

Parkinson ist – allgemein gesagt – eine neurogenereative Erkrankung. Es zeitigt einen ganzen Strauß unterschiedlicher Symptome. In der Verordnung für meine Physiotherapie hat die Neurologin meines Vertrauens die meinen kurz zusammengefasst: „Schädigung/Störung der Bewegungsfunktion; Gangstörung, kleinschrittiges Gangbild, teils mit Fallneigung“.

Wer mehr über diese Krankheit wissen will: Es gibt im Netz eine Reihe von Adressen, unter denen man nachschlagen kann. Seit ich dieser Versuchung gelegentlich nicht zu widerstehen vermag, kann ich aber auch verstehen, warum Ärzte mehr oder weniger sichtbar mit den Augen rollen, wenn ihre Patienten von einschlägigen Lesefrüchten berichten. Denn da ist fast alles zu finden… und das Gegenteil. Wenn ich bei Sinnen bin, halte ich mich daher fern von derlei Zeitvertreib und an den Sachverstand meiner Medizinerin.

Die „Fallneigung“ hab ich schon früh ausprobiert. Wie aus der hektischen Zeit meiner Berufstätigkeit als Journalist gewohnt, bin ich eines Abends nach dem Einkaufen mit scharfem Schnitt in die Kurve zu unserem Haus eingebogen – und prompt lang hingeschlagen. Die Krankheit beeinträchtigt nämlich auch den Meidreflex, die Arme schützend nach vorn zu strecken. Hinter mir kam zufällig ein junger Mann, der mir mit den Worten aufhalf: „Ich kenn’ das. Mein Vater hat auch Parkinson.“ Da hatte ich zum ersten Mal meine Diagnose. Ohne ärztliche Expertise. Praktisch. Lebensweltlich.

Bis die Chose allerdings medizinisch klar war, sollte es noch eine Weile und etliche Untersuchungen dauern, einschließlich eines Besuchs in der nuklearmedizinischen Abteilung der Berliner Charitee. Denn es gibt eine Reihe von Krankheiten mit ähnlichen Symptomen. Linda Ronstadt zum Beispiel, eine meiner Lieblingssängerinnen, beendet ihre Karriere wegen einer Parkinson-Diagnose. Doch irgendwann stellte sich heraus, dass es sich um eine Konkurrenz-Krankheit mit einem komplizierten Namen handelte, den ich mir nicht gemerkt habe.

Aber es gibt eine Reihe von Prominenten mit gesicherten Diagnosen. Der bekannteste hierzulande dürfte der Quizmaster Frank Elster sein. Der Erfinder von „Wetten das…“ Gelegentlich berichtet er darüber in Talkshows. Er kann sich ein Team vn Betreuern leisten, mit dem er um die Welt reist. Der Chef des Berliner Recycling-Unternehmens ALBA, Eric Schweitzer, trat vor einiger Zeit von der Spitze des Unternehmens ab, bleibt aber aktiv. Er habe „ein paar Monate gebraucht“, ehe er seine Erkrankung begriffen habe, sagte er anschießend – und vor allem: bis sie akzeptiert habe. Er müsse nun weniger Stress haben und auf sich achten. So viel Stress wie ein vielbeschäftigter Unternehmer hab ich sicher nicht. Aber auf mich achten muss ich schon.

Denn es ist für mich keineswegs immer einfach, nicht mit dem Schicksal zu hadern. Die Krankheit ist nämlich unheilbar. Die gute Nachricht: Anders als Multiple Sklerose entwickelt sie sich nicht in Schüben zum Schlechteren. Jedenfalls nicht notwendigerweise. Um noch einmal meine Neurologin zu zitieren: „Damit können Sie 90 werden.“ Das hat in meiner Familie noch niemand geschafft. Auch ohne Parkinson.

Er rechne mit einer Verstärung seiner Symptome, hat Eric Schweitzer zu Protokoll gegeben. Das musss ich auch. Etwa zweieinhalb Jahre nach meiner Diagnose befinde ich mich noch mitten im „Honeymoon“, wie ich dieser Tage bei meinem ersten Besuch einer Selbsthilfegruppe für Parkinson-Patienten und ihre Angehörigen erfahren habe.Diese Flitterwochen dauern aller Erfahrung nach etwa fünf Jahre. Danach wird es richtig spannend.

Nun also zum Tango. Früher habe ich getanzt, weil es mir Spaß macht. Daran hat sich nichts geändert. Aber inzwischen tanze ich auch, weil es meiner Gesundheit gut tut. Um beweglich zu bleiben, mache ich Gymnastik. Dazu ein wenig Kraftsport mit Geräten. Aber wie sagte der ehemalige Boxer Henry Maske neulich in einer Talkshow: Training macht keinen Spaß. Was für ein Glück, dass ich den Tango habe. Andere Kranke beneiden mich darum.

Aber mit meinen Fähigkeiten haben sich auch meine Vorlieben geändert. Früher war die Milonga mein Lieblingstanz – wahrscheinlich auch deshalb, weil sie in mir Erinnerungen an den Quickstepp des Ballroom-Dancing weckte. Heute tanze ich am liebsten Vals. Weil der Dreier-Takt übersichtlicher ist und ich mich in die Musik, wie sag’ ich’s am besten: hinein schmiegen kann. Ich bevorzuge Stücke mittleren Tempos. Näher am Langsamen als am Wiener Walzer. Im Tango sind sie zuverlässig im Repertoire von Francisco Canaro zu finden.

Zu den Vorzügen des Tango gehört, dass die Tanzenden im Rahmen des Metrums ihr Tempo selbst bestimmen können: Also wird im Vals nur auf die „Eins“ ein Schritte gemacht. Oder in den Stücken mit gerader Schlagzahl nur auf jeden zweiten Taktschlag. Wer im Vollbesitz seiner Kräfte ist, vermag dann sogar innerhalb eines Stückes das Tempozu variieren. Früher bin ich gern schneller geworden – etwa in der Milonga. Dass ich das heute nicht mehr schaffe, lässt mich gelegentlich mit meinem Schicksal hadern. Dann muss ich mich innerlich zur Ordnung rufen. Denn es bringt nichts – außer schlechter Stimmung.

Ich habe schon in gesunden Tagen nicht zu den Tänzern gehört, die erst um Mitternacht so richtig loslegen. Unter Tangofreaks gilt die Nachtaktivität als Ausweis von „Argentinidad“. Denn in Buenos Aires beginnen die Milongas selten vor 23 Uhr. Live-Musik fängt meistens erst eine Stunde später an. Auch hierzulande klappt kaum ein Tango-DJ sein Notebook vor 21 Uhr auf. Frühestens. Tanguras und Tangueros, die sich zur Elite der Zunft zählen, komen zwei Stunden später. Da bin ich längst platt.

Zu Beginn meiner Krankheit hab ich versucht, mich unter die frühen Vögel zu mischen. Aber viel mehr als eine Stunde hab’ ich nicht geschafft, ohne dass die Mühe das Vergnügen überwogen hätte. Das lohnt den Eintritt nicht, zumal er nach der Pandemie allerorten teurer geworden ist. Bleiben die Nachmittagsveranstaltungen. Die mag die gesunde Frau an meiner Seite ohnehin lieber.

Aber auch das hat die Krankeit verändert: Früher bin ich oft allein tanzen gewesen. Wenn es mein Beruf erlaubt hat, bis zu drei oder vier Mal in der Woche. Heute hab ich die Liebste lieber dabei. Das heißt nicht, dass ich die ganze Zeit mit ihr tanze. Aber mit ihr als „back up“ fühle ich mich sicherer. Der Kick, den mir einst das Tanzen mit fremden Frauen gegeben hat, ist der Unsicherheit gewichen, ob ich mit meinen mählich schwindenden Kräften ihren Ansprüchen noch zu genügen vermag.

In den Milongas, die ich normalerweise besuche, wissen inzwischen die meisten meiner Tanzpartnerinnen um meine Krankheit. Tanzen sie nun aus Mitleid mit mir – oder weil es ihnen Spaß macht, Parkinson hin oder her? Ich weiß es nicht. Doch ich mag mir mit Grübelei darüber nicht die Laune verderben. Lieber genieße ich es, wenn eine Frau zu mir an den Platz kommt und mich mit den Worten auffordert: „Es ist so schön, mit Dir die langsamen Stücke zu tanzen.“

Meine Bilder (4): George Bellows – Dempsey and Firpo

Boxing History: Dempsey vs. Firpo – World Boxing Association

Obwohl der neueste Text in diesem Blog ebenfalls von Bildern handelt, will ich an meinem Grundsatz festhalten, regelmäßig Bilder vorzustellen, die mich umgeben. Das bietet sich in diesem Fall auch deshalb an, weil das Objekt meiner Wahl in scharfem Kontrast zu den Werken Jürgen Kühnes steht. Ich habe den Druck vor Jahren aus den USA mitgebracht.

Das Bild heißt „Dempsey and Firpo“. Der Maler George Bellows (1882 – 1925) zeigt eine Szene aus der ersten Runde des Boxkampfes um die Weltmeisterschaft im Schwergewicht zwischen dem US-amerikanischen Titelträger Jack Dempsey und seinem argentinischen Herausforderer Luis Firpo vom 14. September 1923. Nach einem wuchtigen Schwinger Firpos verlor Dempsey das Gleichgewicht und stürzte durch die Seile – mitten auf die Tische der Reporter am Ring. Deshalb hieß das Bild zunächst auch „Dempsey trough the Ropes“.

Mit der regelwidrigen Hilfe von Journalisten gelang es dem Champ jedoch, nach 14 Sekunden zurück in das Kampfquadrat zu klettern. In der folgenden Runde schlug er Firpo Ko. Insgesamt dauerte die wilde Prügelei nur gut vier Minuten – mit zwölf Niederschlägen. Zwei davon für Dempsey. Firpo war in der ersten Runde bereits sechs Mal eingeknickt, als er seinen historischen Treffer landete. George Bellows hat ihn unsterblich gemacht. Immer wieder taucht sein Bild in Film, Fernsehen und Literatur auf. Noch Jahrzehnte später ist es nicht nur in einer Szene von Martin Scorceses berühmten Mafia-Drama „Godfellas“ zu sehen, sondern auch in einer Episode der Trickfilmserie „Die Simpsons“.

Wer mag, kann sich nun einen Film anschauen, der die Ring- Schlacht zeigt – einschließlich zweier Zeitlupen. Genaue Beobachter werden einen wichtigen Unterschied zwischen Bild und Realität bemerken: Im Film trifft Firpo mit der Rechten. Der Maler zeigt einen Schwung der linken Hand. Es gibt Kritiker, die behaupten, George Bellows habe den Kampf gar nicht gesehen. Große Kunst bleibt sein Werk trotzdem.

PS 1: Freunde des argentinischen Tango könnten beim Namen „Firpo“ stutzig geworden sein. Doch der Boxer Luis Firpo war mit dem berühmten Orchesterleiter Roberto Firpo, dem wir das klassische Arrangement von „La Cumparsita“ verdanken, weder verwandt noch verschwägert. Der trainingsfaule Faustkämpfer hatte mit dem Tango nur insofern zu tun, als er zu einer Clique wohlhabender junger Männer gehörte, die eine Zeit lang mit Carlos Gardel nächtens um die Häuser zogen.

PS 2: Links unten an den Bildrand hat der Maler sich selbst unter die Reporter gesetzt.

Ein malender Flaneur

„Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen“, beginnt Franz Hessels berühmtes Buch „Spazieren in Berlin“. „Man wird überspült von der Eile der andern, es ist ein Bad in der Brandung.“ Doch schon Ende der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als Gehsteige noch Fußgängern vorbehalten und elektrische Roller nicht erfunden waren, klagt er, seine „lieben Berliner Mitbürger“, machten ihm die gemächliche, ziellose Fortbewegung nicht so leicht. „Hierzulande muss man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin.“

Jürgen Kühne kennt das Problem. Auch er stört immer wieder den Fluss der Eilenden um ihn herum, wenn er eine Stadt gehend sich erschließt. Ein wandelndes Hindernis. Er hat Paris, Buenos Aires und Madrid be

reist, in London und New York gelebt. Er liebt Städte. Fremde, aber auch die eigene. Die meiste Zeit des Jahres lebt er in Berlin, wo er bis zu seiner Pensionierung Professor für Metallkunde war – wenn es ihn nicht gerade in seinen Heimathafen nach Rostock zieht, wo er studiert und gearbeitet hat.

Er wolle „den Ersten Blick“ auch auf die Stadt, in der er lebe, „gewinnen oder wiederfinden…“, hat Franz Hessel einst geschrieben – der „Erste“ mit einem großem „E“. Der erste Blick auch beim wiederholten Hinschauen? Die verrätselte Formulierung bezeichnet den Versuch des flanierenden Schriftstellers, seine Unbefangenheit zu bewahren, auch oder gerade, wenn eine Umgebung ihm bereits vertraut ist. Der erste Blick des Malers ist erst recht keine einfache oder gar naive Angelegenheit. Er setzt sich aus wiederholten Anschauungen zusammen. Der Künstler schlüpft in die Rolle seines Publikums, dem er versucht, seine Wirklichkeit auf neue Weise nahe zu bringen. In diesem Sinn tritt er seinen Gegenständen im Wege einer reflektierten Naivität gegenüber. Vorstudien, Skizzen auf Papier oder Leinwand sind Jürgen Kühnes Sache nicht. Er umkreist seine Motive, bis er eine Perspektive gefunden hat, die ihm passend erscheint. Dann beginnt er zu malen.

Jürgen Kühne ist Autodidakt. Er hat nie eine Kunstakademie besucht oder auch nur einen Malkurs. Aber frühzeitig hat er „gekritzelt“, wie er es nennt. So hat er in der Schulpause die Kirche auf die Tafel gezeichnet, die er aus dem Klassenfenster sehen konnte. Auch seine Mutter stand ihm früh „Modell“. Zielgerichtet zu Malen hat er nach seinen Worten erst vor etwa 25 Jahren begonnen. Aber seitdem hat es ihn nicht mehr losgelassen. Er malt in kräftigen Farben mit schnellen Strichen und einem eher breiten Pinsel. Aquarell ist ihm zu matt. Ölfarben zu aufwändig. Der flüssige Acrylkunststoff trocknet schnell. Das kommt, wie er sagt, seiner Ungeduld entgegen. Wenn ihm etwas nicht gelungen erscheint, wird’s halt übermalt. Schnell hat er sein Standardformat gefunden: 80×80 cm oder 100×100 cm. Durch dieses „Nadelöhr“ muss die Realität, soll sie auf seine Leinwand passen. Schon das Format verändert die Welt, versetzt im Zweifelsfall Straßenschilder, Bäume, verzerrt gar Gebäude.

Ist möglicherweise Kunst von 1 Person und außen

Jürgen Kühne malt meist gegenständlich. Ist das Naturalismus, Realismus? Auf jeden Fall ist es die Welt, wie er sie sieht und wie er ihr mit seiner Phantasie und seinem Pinsel eine eigene Gestalt gibt. In einem zentralen Punkt übrigens unterscheidet sich der malende Flaneur Jürgen Kühne von dem schreibenden. Franz Hessel ließ das historische Berlin von Schinkel und Co. links liegen. Er kümmerte sich um die Moderne seiner Zeit – der preußische Dom war nicht sein Ding. Er interessierte sich für die Kathedralen des Industriezeitalters. Jürgen Kühne dagegen führt uns an zentrale Orte des historischen, des repräsentativen Berlin: Brandenburger Tor, Zeughaus, Gendarmenmarkt, , Stadtschloss, Lustgarten mit Dom und Altem Museum. Vielleicht hängt das mit seiner Vergangenheit in der DDR zusammen. Dort war er politisch eher konservativer Mensch in der Minderheit – jedenfalls was seine Möglichkeiten öffentlicher Artikulation anging. Der einst staatlich verordnete sozialistische Realismus ist ihm bis heute ein Graus. Den glatten Fassaden der sozialistischen Zweck- und Schlichtbauten kann er nichts abgewinnen. Womöglich findet er deshalb auch keinen künstlerischen Zugang zur anspruchsvollen architektonischen Moderne des Westens. „Ich hab mir wirklich Mühe gegeben, die Philharmonie zu malen“, berichtet et er. Vergeblich. „Es ist nichts Gescheites daraus geworden.“

Es sind die historischen Gebäude, die Jürgen Kühnes Blick immer wieder neu auf sich ziehen. Die Kapitelle und Verzierungen, die vielen Fenster mit ihren einzeln gefassten kleinen Scheiben. Es sei die Kunst, die vielen Details scheinbar verschmiert zu malen, begeistert er sich, um doch im Auge der Betrachter zusammen gesetzt erkennbar werden. Stellvertretend für uns, die Betrachter, lässt er immer wieder Menschen durch seine Bilder flanieren. Aber das sind keine realistischen Darstellungen. So leer wie „sein“ Pariser Platz oder der Gendarmenmarkt ist es dort nie. Jedenfalls nicht bei Tag. Aber seine künstlerische Welt erschöpft sich nicht in einem wiederbelebten Preußentum. Auf dem Weg zwischen Berlin und Rostock lässt er sich von der Weite der flachen Landschaft mit ihren weiten Raps und Mohnfeldern inspirieren. Darüber hinaus finden auch immer wieder Segelschiffe Eingang in seine Kunst. Es gibt es noch eine Leidenschaft, die zu pflegen er im Zeitalter von Corona besonders vermisst. Jürgen Kühne ist ein leidenschaftlicher Tänzer des argentinischen Tango. Diesen Tanz und sein besonderes „Milljöh“ macht er immer wieder zum Gegenstand seiner Bilder – an die 50 sind es inzwischen, präsentiert in mehreren Ausstellungen. Doch Tango ist ein Paartanz, in dem die Partnerinnen und Partner einander sehr nahe kommen und dennoch häufig wechseln – also das gerade Gegenteil dessen, was die hoch infektiöse Pandemie uns abverlangt. Da ist es erheblich gesünder, durch das spätpreußische Berlin zu flanieren.

Gerade in der jetzigen eher grauen Jahreszeit, vermag seine Ausstellung im Nachbarschaftshaus Friedenau einen farbreichen Kontrast zur allgemeinen Tristesse zu setzen. Sie ist noch bis Ende Februar zu sehen.

Meine Bilder (3): Roy Lichtenstein – Oval Office

ROY LICHTENSTEIN (1923-1997). A NEW GENERATION OF LEADERSHIP. 1992. 34x38 inches, 86x96 cm.

Ich weiß nicht mehr, durch wie viele Wohnungen mich dieses Bild begleitet hat. Es stammt von Roy Lichtenstein. Unverkennbar. Das Poster mit dem offiziellen Arbeitsplatz des amerikanischen Präsidenten war der Beitrag des Pop-Art-Künstlers zum Wahlkampf der Demokraten 1992. Damals gewann Bill Clinton. Ich hab’s irgendwann für 50 Dollar im Gift-Shop des Museum of Modern Arts (MoMA) in New York erstanden. Heute ist es mein wertvollstes Kunstwerk. Vor einigen Jahren erzielte es auf Online-Auktionen 800 bis 1200 Dollar. Zur Zeit wird „A new generation of Leadership“ nicht mehr angeboten.

Es waren die schönsten Jahre meines Berufslebens, in denen ich das Poster gekauft habe. Viel Stress als Hauptstadt-Korrespondent. Aber dazu gehörte jedes Jahr im September eine Arbeitswoche in New York. Wer als Zeitung etwas auf sich hielt, entsandte aus Bonn und später Berlin einen Mitarbeiter zur Eröffnung der UN-Vollversammlung. Das war doppelt Stress. Aber die Zeitverschiebung von sechs Stunden machte es möglich, eine Schicht Arbeit bis zum deutschen Redaktionsschluss mit einer Schicht Vergnügen zu verbinden: Sightseeing, Shoppen, Theater, Jazzclubs. Und eben Museen. Ich war jung genug, das auszuhalten – fünf Tage plus Hin- und Rückflug inklusive Jetlag.

Besonders gern denke ich an die Jahre mit Klaus Kinkel zurück. Der war nicht der größte Politiker, dem ich begegnet bin, aber einer der angenehmsten Menschen in diesem Millieu. Während der „Uno-Woche“ hat er als Außenminister seine Protokoll-Abteilung regelmäßig ein kleines Neben-Programm für die Journalisten (und sich selbst) zusammenstellen lassen. Es enthielt stets einen politischen und einen kulturellen Punkt. So bin ich etwa in den Genuss einer Matinee mit den New Yorker Philharmonikern unter der Leitung von Kurt Masur gekommen.

Aber ich kann auch eine persönliche Anekdote zum Thema „9/11“ beisteuern. Nicht lange vor ihrer Zerstörung war ich nämlich im Restaurant eines der beiden Twin Towers, hoch droben im 101. Stock… pinkeln. Und zwar nicht mit irgendwem, sondern mit Henry Kissinger. Klaus Kinkel hatte ihn für seine journalistischen Begleiter zum Mittagessen eingeladen. Worum es politisch ging? Keine Ahnung mehr. Aber ich erinnere mich noch gut, dass wir, jeder vor seinem Urinal, über das Männerthema Nr. Eins geredet haben: Fußball. Der ehemalige amerikanische Außenminister ließ sich nämlich regelmäßig über das Wirken der Balltreter in seiner fränkischen Heimat unterrichten.

Aber zurück zum „Oval Office“-Poster. Der Slogan A NEW GENERATION IN LEADERSHIP wäre ja durchaus etwas für den Bundestagswahlkampf 2020 in Deutschland gewesen. Nicht für den nicht ganz neuen Olaf Scholz. Doch Annalena Baerbock hätte durchaus mit dem Gedanken werben können… wenn die Grünen nicht ihre Probleme mit dem Begriff „Führung“ hätten. Aber sie haben’s ja ohnehin versemmelt.

Warum mich Annalena Baerbock an Guido Westerwelle erinnert

Briefwahl: Ab wann beantragen und wie das im Detail funktioniert | BR24

Erledigt. Meine Wahlunterlagen sind ausgefüllt und abgeschickt. Seit Jahren wähle ich per Brief. Früher musste ich am frühen Nachmittag eines Wahltages in der Redaktion sein. Rechtzeitig zu den „Exit-Polls“. Die frühen Umfragen unter Menschen, die gerade ihre Stimme abgegeben haben, ermöglichen den Journalisten einen ungefähren Eindruck vom zu erwartenden Ergebnis. Auf dieser noch etwas wackeligen Grundlage werden die ersten Berichte und Kommentare geschrieben. Veröffentlicht werden dürfen diese Texte nicht, solange die Wahllokale noch geöffnet sind.

Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als die frühen Zeitungs-Ausgaben mit dem längsten Transportweg von den Druckereien zu den Lesern mit „immergrünen“ Reportagen aus fernen Ländern bestückt wurden. Aus dieser Bredouille haben die Nachwahl-Umfragen geholfen – um den Preis einer gewissen Unsicherheit. Die gedruckte Zeitung ist halt ein höchst altmodisches Medium. Aber das ist ein anderes Thema.

Zurück zur Bundestagswahl 2021 – Nr. Eins „pM“. Zum ersten Mal seit 16 Jahren geht es nicht mehr um Angela Merkel. Erst schien es ja es ja so aus, als würden viele in dieser Lage lange hin und her überlegen, wem sie statt Mrs.- Raute ihre Stimme geben sollen. Die Umfragen sahen schnell anders aus. Auch meine Entscheidung stand frühzeitig fest. Ich brauchte kein „Triell“ oder die anderen TV-Formate.

Drei Bundestagswahlen nach einander mein Kreuz bei der CDU zu machen, war eine Entscheidung „ad personam“ gewesen. Mit Angela Merkels Rückzug aus dem Amt ist die Geschäftsgrundlage dieser aus meiner Sicht ungewöhnlichen politischen Beziehung entfallen – erst recht, seit die CDU in ihrer Umfrage-Not zum traditionellen Anti-Links-Kurs zurückgekehrt ist. Und Merkel macht mit. Kein neumodisches Klima-Getue mehr. Oder irgendwelche Liberalismen. Stammwählerpflege ist angesagt. Mit Recht, Ordnung und Anti-Kommunismus. Die Stammklientel, vor allem aber die innerparteiliche Anhängerschaft von Friedrich Merz, möchte sich gern vor den alten Feinden fürchten. Den Roten. Das ist viel kuscheliger angenehmer als die neue Angst vor der Niederlage.

Berlin steht vor einem heißen roten Herbst | MDR.DE

Angela Merkel damit kehrt zu den Rezepten eines Mann zurück, der die Ostdeutsche einst in die westdeutsche Politik eingeführt hat. Peter Hintze. Der ist vor einigen Jahren gestorben. Aber seine Politik lebt. Jedenfalls in den Hirnen christdemokratischen Aktivisten. (Der DDR-Begriff passt hier ganz gut.) Legendär der Bundestagswahlkampf 1994. Damals griff Helmut Kohls Generalsekretär Peter Hintze einen Begriff auf, mit dem in der DDR besonders hartleibige SED-Anhänger und -Funktionäre bezeichnet wurden: „Rote Socken“. Diese politisch-kulturelle Regression erspart mir auch, mich in die Einzelheiten dessen zu vertiefen, was gemeinhin „Sachpolitik“ genannt wird. Diese neue alte CDU – das ist wieder eine andere Welt. Wie in meiner Jugend.

Ihre Kampagne 2021 zielt wieder auf alle politischen Kräfte links der gesamtdeutschen Unionsparteien. „Auf in die Zukunft, aber nicht auf roten Socken“, plakatierte die Partei 1994. Als persönliche Antwort habe ich mir damals ein großes Arsenal roter Strümpfe zulegt und sie regelmäßig zu Pressekonferenzen der CDU angezogen. Später hab’ ich sie auch zum Tanzen getragen. Aber das ist ein anderes Thema.

Ich bedanke mich in aller Form bei Armin Laschet und (leider auch) Angela Merkel, dass sie es mir so leicht gemacht haben, zu jener Partei zurückzukehren, die ich die meiste Zeit meines erwachsenen Lebens gewählt habe – auch wenn mir längst nicht alles an ihr passt. Einschließlich des Kanzlerkandidaten. Doch ich suche ja keine „politische Heimat“. Selbst in meiner Episode als studentischer Salon-Kommunist habe ich bei Bundestagswahlen stets für das aus meiner Sicht „kleinere Übel“ votiert. Die SPD. Die Partei der cum grano salis sozialen Gerechtigkeit im Inneren und einer um Entspannung bemühten Außenpolitik.

Aktuell in Personen auf der Rechts-Links-Achse vermessen: Wer sich einst durch den Wechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt nicht hat abschrecken lassen, welche Probleme sollt der mit Olaf Scholz als Nachfolger von Angela Merkel haben? Mit den Worten des österreichischen Publizisten Robert Misik: „Scholz ist diesmal Mitte Links, was Merkel bei den letzten Wahlen Mitte-Rechts war: Jemand vor dem Anders Denkende wenigstens keine Angst haben.“

SPD-Kanzlerkandidat: Mit der Raute sendet Scholz eine kalkulierte Botschaft  - WELT

Bleibt die Frage: Warum hast Du nicht die Grünen gewählt? Nun, ich bin ein alter weißer Mann. Deshalb erinnern sie mich in diesem Wahlkampf an eine Partei, über die ich einen großen Teil meines journalistischen Berufslebens berichtet habe: Die FDP. Ideologisch sind die beiden Parteien meilenweit von einender entfernt, aber… Die FDP kam in einer außergewöhnlichen Höhenflug-Phase ihrer Geschichte auf die Idee, nach dem Vorbild von Union und SPD im Bundestagswahlkampf 2002 einen Kanzlerkandidaten zu nominieren – damit ihr Spitzenpersonal zu den einschlägigen TV-Formaten eingeladen würde. Die Idee hatte der längst vergessene Jürgen Möllemann. Aber auch dies ist eine andere Geschichte

Ihr damaliger Vorsitzender Guido Westerwelle ließ sich die Kanzlerkandidatur nicht nehmen und eine „18“ in die Sohlen eines Paares Schuhe ritzen. So war sein prozentuales Wahlziel zu sehen, wenn er bei Sabine Christiansen, der damaligen Nr.- Eins-Talkshow, die Beine übereinander schlug. (Die Treter sind heute im Deutschen Schuhmuseum in Hauenstein zu bewundern). Mit derlei Gimmicks erwarb sich die FDP den Ruf einer unseriösen „Spaß-Partei“ .

Aber wegen ihrer (jedenfalls sie selbst) berauschenden Umfragewerte und einiger überdurchschnittlicher Wahlergebnisse wähnten die Liberalen sich auf dem Weg zu einer Volkspartei neuen Typs. Diese Selbstüberschätzung führte die Partei, die für eine Weile erfolgreich auf der Woge des neoliberalen Zeitgeistes surfte, beinahe in die Katastrophe.

Davon sind die Grünen, deren Erfolgswelle Klimapolitik heißt, weit entfernt. Das liegt nicht nur an ihnen, sondern auch daran, dass die Mehrheit meines früheren Berufsstandes, ihnen erheblich wohler gesonnen ist als weiland den Liberalen. Deren Protagonisten Jürgen Möllemann und Guido Westerwelle gehörten unter Journalisten zu den meistgehassten Politikern.

Annalena Baerbock und Robert Habeck genießen dagegen weiterhin große Popularität. Und vor allem Nachsicht. Aber auch diese bekuschelte Beliebtheit reicht nicht mehr aus, um die Umfragewerte ihrer Partei dauerhaft auf dem Niveau der „Immer-noch-Volksparteien“ Union und SPD zu fixieren. Die Grünen haben den Zenit ihrer Möglichkeiten überschritten. Je länger sie in diesen Höhen verharren und je näher die Wahl rückt, umso genauer schauen die Menschen hin. Sie überlegen, ob sie nicht nur zur Partei der Herzen taugen, sondern tatsächlich zur realen KanzlerInnenpartei.

In diesem Vergrößerungsglas erhalten die vielen kleinen Patzer und Unsicherheiten der Partei eine größere Bedeutung als ihnen von der Sache her zukommt. Da beginnt der eine oder die andere Wahlberechtigte zu überlegen, ob er oder sie sich wirklich von den Grünen, ich sag’s mit meinen Worten eines alten weißen Mannes: erzogen werden möchte. Es geht schließlich nicht um Stammwählerinnen und -wähler, sondern um Menschen, die sich vor kurzem womöglich noch nicht einmal vorstellen konnten, diese Partei zu wählen. Daher ist die Beziehung zu ihnen besonders zerbrechlich. Keine neue Erfahrung übrigens für die Partei. Sie musste schon mehrfach erfahren, dass ihre Umfragewerte umso mehr bröckelten, je näher ein Wahltermin rückte.

Aktuell scheint insbesondere der Zauber von Annalena Baerbock verflogen. Ich erinnere mich noch gut an einen alten feministischen Spruch: Gleichberechtigung ist erst dann erreicht, wenn eine Frau zum Zuge kommt, die genauso mittelmäßig ist wie ihr männlicher Konkurrent. Das bleibt richtig. Aber immer mehr Menschen denken offenbar darüber nach, ob der Mann in dem einstigen Traumpaar womöglich etwas weniger mittelmäßig ist als die Frau.

Doch die vormals Alternativlinge verhalten sich nicht anders als die DU. Sie folgen weiter dem, was sie für den innerparteilichen Mainstream halten – obwohl sich immer mehr herausstellt, dass er womöglich nicht das weiseste ist. In der SPD dagegen hat die Nomenklatura eingesehen, dass es wichtiger sein kann, nach außen zu schauen als nach innen. Deshalb scharen die Sozialdemokraten sich in ungewohnter Disziplin um einen Mann, der auf mehreren Parteitagen und in einer Mitglieder-Befragung durchgefallen ist. Da schimmert im geschrumpften Links-Verein doch wieder die gute alte Volkspartei aus Willy Brandts Zeiten durch.

Aber womöglich hat das Team um Annalena Baerbock das Ziel bereits aufgegeben. Oder wie soll ich es interpretieren, dass sie nicht mehr versuchen, auch ihnen fern stehende Menschen zu erreichen? Ein Auftritt bei Markus Lanz? Keine Zeit. Ein Interview mit der auflagenstärksten Wochenzeitung des Landes? Keine Zeit. Die „Bild am Sonntag“ hat diese Absage jetzt öffentlich gemacht. Sie brachte eine fast leere Seite mit dem Hinweis, dass dort ein Interview mit ihr hätte stehen sollen. Nimmt man/frau das hin, um auf diese Weise den alten Anti-Springer-Reflex der westdeutschen Linken zu remobilisieren? Mich jedenfalls stößt derlei Wagenburg-Mentalität kaum weniger ab als die Exhumierung des Antikommunismus durch die CDU.

„Der fliegende Frosch“ heißt ein kurzes Gedicht von Wilhelm Busch, das ich vor Jahren mit Blick auf die Möchte-Gern-Volkspartei FDP verwandt habe: „Wenn einer, der mit Mühe kaum / gekrochen ist auf einen Baum, /schon meint, dass er ein Vöglein wär’,/ so irrt sich der.“

Aktueller geht’s nicht.

Wie ich lernte, Hundefutter zu lieben… mit Dank an Wolfram Siebeck

Martin Grothmaak Photography

Das Böse in unseren Küchen hat einen Namen. Es heißt Kutteln.“

Wolfram Siebeck

Ich hatte mit dem Bösen schon Bekanntschaft gemacht, da war mir das Wort „Kutteln“ noch längst nicht geläufig. Bei uns zuhause hießen die hellen, leicht gummi-ähnlichen Fleischfetzen „Flaki“. Wie in der oberschlesischen Heimat meiner weiblichen Vorfahren. Anderswo gibt es sie auch unter dem Namen Pansen oder (etwas altmodisch) Kaldaunen. Dass sie einmal zu meinen Lieblingsgerichten gehören würden, hätte ich mir in meiner Kindheit nicht vorstellen können. Erst recht nicht, dass diese Vorliebe mich mit einem der anspruchsvollsten Feinschmecker Deutschlands verbinden würde: Wolfram Siebeck. Vor fünf Jahren ist der Autor unzähliger Kolumnen und von mehr als 30 Kochbüchern gestorben. Vom letzten Werk zu seinen Lebzeiten erschienenen Werk wird hier die Rede sein.

Was das alles mit Hundefutter zu tun hat? Abwarten…

Gereicht wurden die Kutteln meiner frühen Jahre in der DDR als Suppe. Waren noch Möhren drin oder Lauch? Keine Ahnung. Auf jeden Fall Salzkartoffeln. Das Ganze sollte ja satt machen. Eine Delikatesse? Eher nicht. Gewürzt wurde mit einem kräftigen Schuss Essig-Essenz und einem Esslöffel Zucker. Die Suppe samt der gelockten Einlage mochte ich. Aber die Würz-Zugabe war mir zuwider. Immerhin durfte ich drauf verzichten. Nach unserer Flucht in den Westen war, so weit ich mich erinnere, erst einmal für einige Jahre Pansen-Pause. Aber bis heute habe ich mit säuerlichen und süß-sauren Gerichten meine Probleme.

Mit Kutteln bin ich erst wieder Ende der 1970er Jahre gleich zweifach in Berührung gekommen. Zum einen, wenn wir in Konstanz Freunde aus dem Studium in Marburg besuchten. Zum anderen in Frankreich. Dort war der einschlägige Eintopf nach einer Stadt in der Normandie benannt; „Tripes a la mode de Caen“. In Darm zu Würsten gepresst und scharf angebraten, heißen die Teile Andouillettes“. Beilagen: Pommes Frites und geschmorte Apfelringe. Wie bei uns zur Leber.

In Konstanz gab es Kutteln nach meiner Erinnerung bei jedem Metzger, der auf sich hielt. Sie waren in schmale Streifen geschnitten und wurden vorgegart verkauft, meist schon leicht gesäuert. Das landestypische Gericht: Kutteln in einer Soße aus Trollinger oder Lemberger – weit weg von dem Billig-Essig meiner Kindheit. Aber mir immer noch zu sauer. Da ich die Dinger nun einmal mochte, habe ich in unserer Ferienwohnung mein erstes eigenes Rezept kreiert. Wegen der Zutaten hab’ ich´s provenzalische Kutteln getauft.

Als Wein für meine Kutteln hab ich Retsina genommen. Weil er billig ist. Und würzig. Zum Fleisch kommt noch eine Knolle Fenchel hinzu. In Streifen geschnitten so groß wie das Fleisch. Außerdem getrocknete Kräuter der Provence und nicht zu vergessen, eine ordentliche Portion Knoblauch. Unser badischer Gastgeber ein bodenständiger Landwirt war begeistert. Das schmeckte ganz anders als die Kutteln seiner Mutter. Ich war auch zufrieden und wollte den Erfolg daheim wiederholen.

Guter Dinge entsann ich mich, dass unser Metzger in Köln aus dem Badischen stammte. Aber leider nicht seine Kundschaft. Kein Bedarf. Meine hoffnungsfrohe Frage wurde daher mit der Antwort beschieden: Da könnte ich Ihnen höchstens was vom Hundefutter geben. So geschah es. Doch das bedeutete Arbeit. Und Gestank. Um ihn zu übertönen, bereitete ich auf einer anderen Kochplatte eine italienische Nudelsoße mit viiiel Knoblauch. Nach einigen weiteren Arbeitsgängen hatte ich essbare Kutteln auf der Arbeitsplatte in meiner Küche.

In Berlin lernte ich dann, dass Pansen er zur anatolischen Volksküche gehört: Iskembe. Ich finde ihn in der Kühltheke jedes türkischen Metzgers, der auf sich hält, nicht weit von meinem geliebten Köfte. Inzwischen hab ich also keine Probleme, Kutteln zu bekommen. Schwieriger bleibt es allerdings, Gesellschaft zum Essen zu finden. Leider ist auch meine Liebste nicht so kuttelig gestimmt wie Barbara Siebeck. Höchstens zur Variante mit scharfer spanischer Chorizo kann ich sie gelegentlich überreden. Da schmecken sie am wenigsten nach Kutteln.

Am Ende seines Lebens ging der Pädagoge mit ihm durch. Von so vielem hatte er die Deutschen überzeugt. Nun blieb nur noch eins, das er zeit Lebens immer wieder genossen hatte: Innereien. Leber, Nieren, Herz, Hirn und eben Kutteln. Doch damit ist er gescheitert. Sein letztes Kochbuch beginnt mit den Worten:

Selten sind ein Autor und sein Verlag so nachdrücklich davor gewarnt worden, ein bestimmtes Buh zu veröffentlichen, wie wir. Das Projekt einer Küche der Innereien schien allen Befragten so brisant und ein folgenreicher Volkszorn unvermeidbar.“

So ist Siebecks Buch nur in einem kleinen Berliner Verlag erschienen, der normalerweise Kunstbücher heraus bringt. Nicht bloß seines Inhalts wegen ist es etwas ganz Besonderes geworden. Denn zur Illustration dienen keine Abbildungen fein gestalteter Gerichte, sondern das Rohmaterial – Fleischteile, die der Verarbeitung harren. Manch zart besaiteten Betrachter dürfte der Anblick nicht weniger gruseln als der Gedanke an Kutteln. Leider ist das Buch vergriffen. Im Internet kosten die letzten Exemplare gebraucht bis zu 180 Euro.

Wolfram Siebeck, Das Kochbuch der verpönten Küche, Edition Braus im Wachter Verlag GmbH, 2008, 200 S.

Edition Braus — Wolfram Siebeck / Projekte / Projekttriangle Design Studio

Meine Bilder (2): Gerhard Richter – Rheinhausen

In dieser Abendstimmung hab ich das Werk nie gesehen. Rheinhausen war für mich ein Tagesjob. Die Manuskripte der Redaktion, in der ich meinen Semesterferien arbeitete, mussten früh fertig sein. Irgendwann am Nachmittag kam der Bote, ein freundlicher älterer Herr, und transportierte das Kuvert per Bus mit den Artikeln nach Duisburg, von wo es mit dem Auto weiter in die Druckerei nach Essen ging. Unvorstellbar in den heutigen Zeiten des Echtzeit-Journalismus. Auch ich stieg nach Redaktionsschluss in einen Linienbus. Er brachte mich in die entgegengesetzte Richtung. Nach Moers, wo ich damals wohnte.

Aber das Grafenschloss der einstigen Kreisstadt hatte nicht das Glück, von einem der berühmtesten Künstler der Welt gemalt zu werden. So steht das heute zu Duisburg gehörende Rheinhausen für die Erinnerung daran, wie ich mir große Teile meines Studiums finanziert habe. Nach einem Bericht des Berliner “Tagesspiel” hat eine Antiquitäten-Händlerin das Bild für wenig Geld von einem Mann gekauft, den sie schnell wieder vergessen hat. Lang staubte das 0,70 x 1,10 m große Ölgemälde erst über ihrem Esstisch ein, dann in der Diele. Irgendwann entdeckte sie auf der Rückseite eine handgeschriebene Adresse: “Gerd Richter, Hüttenstraße 71, Düsseldorf.” Sie wurde neugierig, recherchierte und bekam heraus: So kennzeichnete der heute teuerste Maler der Welt Anfang der 60er Jahre seine Bilder.

Die meisten Exemplare seines Jugendwerks hat er 1962 in einer heute legendären Aktion im Hof der Düsseldorfer Kunstakademie verbrannt. Reiner Zufall, dass die Auftragsproduktion für einen Bekannten “überlebte”. Auf Anfrage bestätigte Gerhard Richter seine Urheberschaft. Aber er war nicht bereit, “Rheinhausen” ins offizielle Verzeichnis seiner Werke aufzunehmen. Die Besitzerin wandte sich dann an das Berliner Auktionshaus Bassenge. Das erhoffte preistreibende Bieterduell zweier Richter-Verrückter kam zwar nicht zustanden. Aber am Ende erzielte das “verstoßene” Bild immerhin 340 000 Euro. (siehe dazu: Der Tagespiegel 1.12. 2012)

Ob ich das Werk ebenfalls verkauft oder lieber in eine Versicherung für einen “echten Richter” in meiner Wohnung investiert hätte – ich bin mir nicht sicher.

Meine Bilder (1): Franz Radziwill – Der Zeitungsleser sieht die Welt nicht mehr

Ich habe mir vorgenommen, zwischen meine Texte zu aktuellen Ereignissen regelmäßig Bilder einzustreuen, die mich umgeben. Von den meisten besitze ich nur Reproduktionen, von wenigen die Originale. Selbstverständlich werde ich meine Intentionen bei der Auswahl nicht verschweigen.

Es ist etliche Jahre her, dass ich eine Reproduktion dieses Bildes im “Spiegel” gesehen (7/1995, S. 19.) habe. Es hat mich auf Anhieb fasziniert. Zwei Männer sind in die Lektüre ihrer Zeitung versunken. Was um sie herum geschieht, scheint sie nicht zu interessieren. Eine Frau dagegen tritt aus einer Haustür und schaut einem Flugzeug nach. Der Himmel ist in bedrohliches Rot getaucht. Da ließe sich viel heraus und hinein interpretieren.

Ich habe das Bild durchaus persönlich genommen. Für mich stellt es ein Stück radikaler Medienkritik dar. Franz Radziwill hat das Bild 1950 gemalt. Damals waren Zeitungen das beherrschende aktuelle Medium außer dem Hörfunk.. Noch waren Zeitungsjournalisten die zentralen “Gatekeeper”, die das Tor bewachten, das zwischen den Menschen und der Wirklichkeit außerhalb ihrer unmittelbaren Umgebung steht.

Regelmäßige Fernseh-Sendungen gab es in beiden Teilen Deutschlands erst von 1952 an. Vom Internet war noch nicht die Rede. Von den “sozialen Medien” erst recht nicht. Dennoch gab es in den 1950er Jahren einen elitären bis reaktionären Kulturpessimismus. Ihn habe ich auch von meinen Gymnasiallehrern in den 60ern und 70ern mit Blick auf das Fernsehen erlebt, erst recht als es in Farbe daher kam.

Von dieser Einstellung ist Radziwills Bild sicher nicht frei. Dennoch bleibt seine düstere Vision für mich von erschreckender Aktualität.

Anlass des “Spiegel”-Artikels war eine Ausstellung in der Kunsthalle Emden. Gegründet hat sie der Erfinder und langjährige Chef des Magazins “Der Stern”, Henri Nannen. So konnte der leidenschaftliche Sammler seine Kunstwerke in eigenen Räumen in seiner Heimatstadt präsentieren. Das Bild stammt aus dem Fundus des Oldenburger Unternehmers Claus Hüppe, der sein Vermögen vor allem mit Duschvorhängen gemacht hat.

Meine frühere Ehefrau hat die Abbildung professionell reproduzieren lassen und mir vor Jahren zum Geburtstag geschenkt.

Mein langsamer Weg nach Berlin

Vor 30 Jahren hat das deutsche Volk, genauer gesagt: seine parlamentarische Vertretung, mein Leben grundlegend verändert. Ende Juni 1991 war das. In der Nacht vom 20. auf den 21. beschloss der Bundestag, seinen Sitz von Bonn nach Berlin zu verlegen. Die Entscheidung fiel denkbar knapp aus. Nur etwas mehr als 52 Prozent der Abgeordneten votierten dafür. Der Verlauf der Debatte, ihre Vorgeschichte und Folgen, sind oft geschildert und analysiert worden. Ich will mich hier auf meine persönliche Umzugsgeschichte konzentrieren.

Als Nachrichtenredakteur des „Kölner Stadt-Anzeiger“ hatte ich am Abend des 20. Juli 1991 Spätdienst. Gemeinsam mit unserer Bonner Korrespondentin Ada Brandes hab ich einen Aufmacher samt Schlagzeile erarbeitet, aus dem hervorging, dass den Ausschlag für diese anti-rheinische „Unrechtstat“ (Vorsicht: Ironie!) die FDP und die damals noch existierende PDS gegeben haben. Aus unterschiedlichen Grünen fanden wir beide Parteien nicht sonderlich sympathisch. Die Liberalen vielleicht sogar noch etwas weniger als die Postkommunisten, weil sie uns durch ihren Koalitionswechsel von der SPD zu CDU und CSU Helmut Kohl als Bundeskanzler eingetragen hatten. Aber das ist eine andere Geschichte…

Bis zur – leider grundlegenden – Renovierung zierte eine Kopie dieses historischen Dokuments die Wand über den Pinkelbecken im Herrenklo der „Ständigen Vertretung“ – der rheinischen Nostalgie-Kneipe unweit des Berliner Bundestages. Fotos davon sind leider mit dem Verlust eines meiner Handys verloren gegangen. Wer Karneval an der Spree erleben möchte – hier ist er nach wie vor richtig. Ernsthaft ging die Umsetzung des „Hauptstadt-Beschlusses“ vom Sommer 1999 an von statten.

Neulich wollte ich der Liebsten, die ich ohne diesen Umzug sicher nicht kennen gelernt hättet, meinen ersten Berliner Arbeitsplatz zeigen. Pech gehabt. Wir fanden nur eine Baugrube. Die ehemaligen Studios des DDR-Rundfunks in der Schadow-Straße Nr. 4 – 6, wo die meisten „Bonner“ ihren ersten Unterschlupf gefunden hatten, waren kein architektonisches Juwel. Platte pur. Trotzdem tat mir der Abriss weh. Die Dinger kommen auch in den Erinnerungen der beiden früheren westdeutschen DDR-Korrespondenten Peter Merseburger und Fritz Pleitgen vor, über die ich demnächst an dieser Stelle berichten werde.

Mich stürzte der Umzug in ein persönliches Dilemma, das über die Probleme hinaus ging, mit denen fast alle Kollegen damals zu tun hatten. Aber davon später mehr. Nicht lange zuvor war mein Traum in Erfüllung gegangen: Endlich raus aus dem „Bergwerk“ der Nachrichtenredaktion, hinein ins freie Korrespondenten-Leben. Bonn! Was gab es Besseres für einen politischen Journalisten… Im Inland jedenfalls. Und ziemlich frei war damals wirklich noch, wer aus der stellvertretenden Hauptstadt berichten durfte.

Den Abend, an dem mich der Ruf ereilte, werde ich nicht vergessen, auch wenn mir das Datum längst entfallen ist. Wir saßen beim Essen in Köln-Sülz. Wie immer war meine jüngere Tochter die Schnellste, als das Telefon klingelte. „Für Dich“ krähte sie durch den langen Flur. Es war noch die Vor-Handy-Zeit. Widerwillig erhob ich mich vom Küchentisch. Aus dem Hörer ertönte eine sonore Stimme: „Rudolph“. Der Klang war mir damals noch nicht geläufig. Was der gleichnamige Lokalredakteur wohl von mir wollen könnte? Keine Ahnung.

Das Rätsel war schnell gelöst. Der Anruf kam nicht aus der Breiten Straße, wo der „Stadt-Anzeiger“ damals noch residierte, sondern aus Berlin. Am andern Ende der Leitung saß Hermann Rudolph, der Chefredakteur des „Tagesspiegel“ . Er machte mir ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte. Ich sollte einer der beiden Bonner Korrespondenten des Westberliner Traditions-Blattes werden. Mein Vorgänger war Chefredakteur in seiner südwestdeutschen Heimat geworden. Aber warum nun ausgerechnet ich?

Normalerweise rekrutieren Redaktionen das Personal für derlei Posten aus ihren eignen Reihen. Beim „Tagesspiegel“ hatte damals aber keiner der in Frage kommenden Redakteure Lust, aus der preußischen Hauptstadt in die Rhein-Provinz zu wechseln. Die Namen der anderen „auswärtigen“ Kandidaten habe ich in den folgenden Jahren Zug zum Zug erfahren, die meisten persönlich kennen gelernt.

Um seine Ambitionen auch äußerlich zu dokumentieren, hatte das Blatt damals sein Format geändert. Es war nun so großflächig wie die führenden Zeitungen des Landes: „Süddeutsche“, „FAZ“, „Die Welt“. Pech nur, dass der Redaktions-Etat nicht entsprechend mitgewachsen war. Also scheiterten die Verhandlungen ein ums andere Mal am Geld. Denn die „Bonner“ wurden überdurchschnittlich gut bezahlt, hatten oft genug obendrein einen Dienstwagen – einst wichtiges Statussymbol derer, die sich im Journalismus „etwas Besseres“ dünken durften.

Das war meine Chance. Mein künftiger Chef kannte mich zwar nicht persönlich, aber einen nicht unwichtigen Teil meiner Arbeit. So hatte ich es in einem Leitartikel-Wettbewerb, den der „Tagesspiegel“ damals noch auslobte, immerhin bis in die letzte Runde gebracht. Außerdem kannte er die Mappe mit meinen besten Stücken aus einer (vergeblichen) Bewerbung bei der SZ, wo er zuvor das Politik-Ressort geleitet hatte. Das fällige Bewerbungsgespräch zeigte, dass die sprichwörtliche „Chemie“ zwischen uns stimmte. Also trat ich im Frühjahr 1993 meinen Dienst an – im „Bonn-Center“, einem unwirtlichen 18-Geschosser im Niemandsland zwischen Regierungsviertel und City. Auch diese (westliche) Hässlichkeit ist inzwischen abgerissen.

Eine Kuriosität am Rande: Wegen der notorischen Raum-Knappheit des Bundestages war hier auch die Gruppe der PDS untergebracht. Zu ihrem Ärger. Nicht wegen der vertrauten Architektur, die auch in Ost-Berlin hätte stehen können. Sondern wegen des Schmucks auf dem Dach. Denn wie auf dem West-Berliner Europa-Center drehte sich da oben ein nächstens beleuchteter Mercedes-Stern. Doch alle Proteste halfen nicht. Bis zum Umzug des Parlaments mussten Gregor Gysi und seine Genossen mit dem kapitalistischen Dings auf dem Dach leben.

Aber zurück zu meinem Dilemma. Ich hab’ zwar nie die magische Befürchtung geteilt, der Umzug würde die neue deutsche Politik in alten Imperialismus verfallen lassen. Aber ich war auch kein flammend begeisterter Berliner. Mein Standardsatz: Wenn der Ort eine so groß Bedeutung für die Politik hätte, dann müsste Washington eine Lösung des Drogenproblems hervor gebracht haben und keinen drogensüchtigen Bürgermeister.

Deshalb konnte ich auch der positiven Annahme wenig abgewinnen, die Politik werde in der gesamtdeutschen Großstadt Berlin den Problemen des Landes näher sein als im vergleichsweise idyllischen Bonn – insbesondere denen des Zusammenwachsens der beiden so ungleichen Teile. Heute fürchte ich allerdings, wären „wir“ in Bonn geblieben, die Zwietracht zwischen der Politik und einem großen Teil der Bürgerschaft, zumal im Osten, wäre noch größer.

Aber mein Hauptproblem mit dem ersehnten Wechsel ins Zentrum der Politik war nicht politischer, sondern persönlicher Natur. Denn meine damalige Ehefrau hatte mit dem Umzug nichts im Sinn. Sie hätte beruflich völlig neu anfangen müssen. In diesem Konflikt klafften die Sollbruchstellen unserer Beziehung immer weiter aus einander. Am Ende ist die Ehe daran gescheitert. Das ging auch anderen Kollegen so.

Die Frauen mochten den (damals meist männlichen) Korrespondenten nicht mehr so umstandslos folgen wie es früher war, als sie ihnen oft noch als nebenamtliche Sekretärinnen, ja: „dienten“. Ist es das wert, lautete eine vieldiskutierte Frage. So kam es zu etlichen, wie ein kluger Kollege formulierte, „Bilanztrennungen“. Ein anderer, bei dem es gut gegangen war, erinnerte sich: „Wir haben innerlich noch einmal geheiratet.“

Obwohl sich ein beruflicher Traum erfüllt hatte, bin ich also nicht uneingeschränkt euphorisch nach Berlin gezogen. Eine Zeit lang habe ich sogar mit dem Gedanken kokettiert: Als Rentner werde ich zurück ins Rheinland ziehen. Aber einmal davon abgesehen, dass es in Köln nicht einfacher ist, eine bezahlbare Wohnung zu finden als in Berlin. Ich habe hier eine neue Liebe gefunden, die in diesen Tagen schon zehn Jahre hält.

Korrekt ausgedrückt müsste ich sogar von zwei neuen Lieben sprechen. Denn bevor ich meine heutige Ehefrau kennen gelernt habe, fand ich eine Leidenschaft, wie ich sie zuvor noch nie hatte: Das Tanzen. Erst Standard und Latein. Dann (argentinischen) Tango. Für mich war das neu. Denn bis dahin hatte mich ausschließlich mein journalistischer Beruf ausgefüllt. Samt seinem Drumherum. Nun hatte ich etwas, das nicht zuvörderst kopf- und politikgesteuert war.

Begonnen hat diese Liebe nicht an der Spree, sondern an der Elbe. Meine damalige Freundin hatte mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, sie auf einen Ball zu begleiten. Nach Dresden. Über die notwendige Kleidung verfügte ich. Hinreichend Neugier auch. Nach anfänglicher Unsicherheit trugen mich die Freude der Partnerin im Verbund mit meinem Rhythmus-Gefühl und der Erinnerung an meine Tanzstundenschritte durch den Abend. Irgendwann entfuhr mir dann der entscheidende Satz: „Eigentlich könnte man auch mal einen Tanzkurs machen.“ So geschah es.

Die Suche nach geeigneten Lokalitäten, insbesondere solchen, in denen es Live-Musik gibt, führte mich dann im Wortsinn von West nach Ost, von Süd nach Nord quer durch Berlin und rundherum. So hat meine neue Leidenschaft dazu beigetragen, dass ich meine neuen Arbeits- und Wohnort immer besser kennen gelernt habe. Auf diese Weise ist Berlin zu meiner Stadt geworden. Wäre Pathos mir nicht fremd – vielleicht werde ich es irgendwann sogar einmal Heimat nennen.