Warum mich Annalena Baerbock an Guido Westerwelle erinnert

Briefwahl: Ab wann beantragen und wie das im Detail funktioniert | BR24

Erledigt. Meine Wahlunterlagen sind ausgefüllt und abgeschickt. Seit Jahren wähle ich per Brief. Früher musste ich am frühen Nachmittag eines Wahltages in der Redaktion sein. Rechtzeitig zu den „Exit-Polls“. Die frühen Umfragen unter Menschen, die gerade ihre Stimme abgegeben haben, ermöglichen den Journalisten einen ungefähren Eindruck vom zu erwartenden Ergebnis. Auf dieser noch etwas wackeligen Grundlage werden die ersten Berichte und Kommentare geschrieben. Veröffentlicht werden dürfen diese Texte nicht, solange die Wahllokale noch geöffnet sind.

Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als die frühen Zeitungs-Ausgaben mit dem längsten Transportweg von den Druckereien zu den Lesern mit „immergrünen“ Reportagen aus fernen Ländern bestückt wurden. Aus dieser Bredouille haben die Nachwahl-Umfragen geholfen – um den Preis einer gewissen Unsicherheit. Die gedruckte Zeitung ist halt ein höchst altmodisches Medium. Aber das ist ein anderes Thema.

Zurück zur Bundestagswahl 2021 – Nr. Eins „pM“. Zum ersten Mal seit 16 Jahren geht es nicht mehr um Angela Merkel. Erst schien es ja es ja so aus, als würden viele in dieser Lage lange hin und her überlegen, wem sie statt Mrs.- Raute ihre Stimme geben sollen. Die Umfragen sahen schnell anders aus. Auch meine Entscheidung stand frühzeitig fest. Ich brauchte kein „Triell“ oder die anderen TV-Formate.

Drei Bundestagswahlen nach einander mein Kreuz bei der CDU zu machen, war eine Entscheidung „ad personam“ gewesen. Mit Angela Merkels Rückzug aus dem Amt ist die Geschäftsgrundlage dieser aus meiner Sicht ungewöhnlichen politischen Beziehung entfallen – erst recht, seit die CDU in ihrer Umfrage-Not zum traditionellen Anti-Links-Kurs zurückgekehrt ist. Und Merkel macht mit. Kein neumodisches Klima-Getue mehr. Oder irgendwelche Liberalismen. Stammwählerpflege ist angesagt. Mit Recht, Ordnung und Anti-Kommunismus. Die Stammklientel, vor allem aber die innerparteiliche Anhängerschaft von Friedrich Merz, möchte sich gern vor den alten Feinden fürchten. Den Roten. Das ist viel kuscheliger angenehmer als die neue Angst vor der Niederlage.

Berlin steht vor einem heißen roten Herbst | MDR.DE

Angela Merkel damit kehrt zu den Rezepten eines Mann zurück, der die Ostdeutsche einst in die westdeutsche Politik eingeführt hat. Peter Hintze. Der ist vor einigen Jahren gestorben. Aber seine Politik lebt. Jedenfalls in den Hirnen christdemokratischen Aktivisten. (Der DDR-Begriff passt hier ganz gut.) Legendär der Bundestagswahlkampf 1994. Damals griff Helmut Kohls Generalsekretär Peter Hintze einen Begriff auf, mit dem in der DDR besonders hartleibige SED-Anhänger und -Funktionäre bezeichnet wurden: „Rote Socken“. Diese politisch-kulturelle Regression erspart mir auch, mich in die Einzelheiten dessen zu vertiefen, was gemeinhin „Sachpolitik“ genannt wird. Diese neue alte CDU – das ist wieder eine andere Welt. Wie in meiner Jugend.

Ihre Kampagne 2021 zielt wieder auf alle politischen Kräfte links der gesamtdeutschen Unionsparteien. „Auf in die Zukunft, aber nicht auf roten Socken“, plakatierte die Partei 1994. Als persönliche Antwort habe ich mir damals ein großes Arsenal roter Strümpfe zulegt und sie regelmäßig zu Pressekonferenzen der CDU angezogen. Später hab’ ich sie auch zum Tanzen getragen. Aber das ist ein anderes Thema.

Ich bedanke mich in aller Form bei Armin Laschet und (leider auch) Angela Merkel, dass sie es mir so leicht gemacht haben, zu jener Partei zurückzukehren, die ich die meiste Zeit meines erwachsenen Lebens gewählt habe – auch wenn mir längst nicht alles an ihr passt. Einschließlich des Kanzlerkandidaten. Doch ich suche ja keine „politische Heimat“. Selbst in meiner Episode als studentischer Salon-Kommunist habe ich bei Bundestagswahlen stets für das aus meiner Sicht „kleinere Übel“ votiert. Die SPD. Die Partei der cum grano salis sozialen Gerechtigkeit im Inneren und einer um Entspannung bemühten Außenpolitik.

Aktuell in Personen auf der Rechts-Links-Achse vermessen: Wer sich einst durch den Wechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt nicht hat abschrecken lassen, welche Probleme sollt der mit Olaf Scholz als Nachfolger von Angela Merkel haben? Mit den Worten des österreichischen Publizisten Robert Misik: „Scholz ist diesmal Mitte Links, was Merkel bei den letzten Wahlen Mitte-Rechts war: Jemand vor dem Anders Denkende wenigstens keine Angst haben.“

SPD-Kanzlerkandidat: Mit der Raute sendet Scholz eine kalkulierte Botschaft  - WELT

Bleibt die Frage: Warum hast Du nicht die Grünen gewählt? Nun, ich bin ein alter weißer Mann. Deshalb erinnern sie mich in diesem Wahlkampf an eine Partei, über die ich einen großen Teil meines journalistischen Berufslebens berichtet habe: Die FDP. Ideologisch sind die beiden Parteien meilenweit von einender entfernt, aber… Die FDP kam in einer außergewöhnlichen Höhenflug-Phase ihrer Geschichte auf die Idee, nach dem Vorbild von Union und SPD im Bundestagswahlkampf 2002 einen Kanzlerkandidaten zu nominieren – damit ihr Spitzenpersonal zu den einschlägigen TV-Formaten eingeladen würde. Die Idee hatte der längst vergessene Jürgen Möllemann. Aber auch dies ist eine andere Geschichte

Ihr damaliger Vorsitzender Guido Westerwelle ließ sich die Kanzlerkandidatur nicht nehmen und eine „18“ in die Sohlen eines Paares Schuhe ritzen. So war sein prozentuales Wahlziel zu sehen, wenn er bei Sabine Christiansen, der damaligen Nr.- Eins-Talkshow, die Beine übereinander schlug. (Die Treter sind heute im Deutschen Schuhmuseum in Hauenstein zu bewundern). Mit derlei Gimmicks erwarb sich die FDP den Ruf einer unseriösen „Spaß-Partei“ .

Aber wegen ihrer (jedenfalls sie selbst) berauschenden Umfragewerte und einiger überdurchschnittlicher Wahlergebnisse wähnten die Liberalen sich auf dem Weg zu einer Volkspartei neuen Typs. Diese Selbstüberschätzung führte die Partei, die für eine Weile erfolgreich auf der Woge des neoliberalen Zeitgeistes surfte, beinahe in die Katastrophe.

Davon sind die Grünen, deren Erfolgswelle Klimapolitik heißt, weit entfernt. Das liegt nicht nur an ihnen, sondern auch daran, dass die Mehrheit meines früheren Berufsstandes, ihnen erheblich wohler gesonnen ist als weiland den Liberalen. Deren Protagonisten Jürgen Möllemann und Guido Westerwelle gehörten unter Journalisten zu den meistgehassten Politikern.

Annalena Baerbock und Robert Habeck genießen dagegen weiterhin große Popularität. Und vor allem Nachsicht. Aber auch diese bekuschelte Beliebtheit reicht nicht mehr aus, um die Umfragewerte ihrer Partei dauerhaft auf dem Niveau der „Immer-noch-Volksparteien“ Union und SPD zu fixieren. Die Grünen haben den Zenit ihrer Möglichkeiten überschritten. Je länger sie in diesen Höhen verharren und je näher die Wahl rückt, umso genauer schauen die Menschen hin. Sie überlegen, ob sie nicht nur zur Partei der Herzen taugen, sondern tatsächlich zur realen KanzlerInnenpartei.

In diesem Vergrößerungsglas erhalten die vielen kleinen Patzer und Unsicherheiten der Partei eine größere Bedeutung als ihnen von der Sache her zukommt. Da beginnt der eine oder die andere Wahlberechtigte zu überlegen, ob er oder sie sich wirklich von den Grünen, ich sag’s mit meinen Worten eines alten weißen Mannes: erzogen werden möchte. Es geht schließlich nicht um Stammwählerinnen und -wähler, sondern um Menschen, die sich vor kurzem womöglich noch nicht einmal vorstellen konnten, diese Partei zu wählen. Daher ist die Beziehung zu ihnen besonders zerbrechlich. Keine neue Erfahrung übrigens für die Partei. Sie musste schon mehrfach erfahren, dass ihre Umfragewerte umso mehr bröckelten, je näher ein Wahltermin rückte.

Aktuell scheint insbesondere der Zauber von Annalena Baerbock verflogen. Ich erinnere mich noch gut an einen alten feministischen Spruch: Gleichberechtigung ist erst dann erreicht, wenn eine Frau zum Zuge kommt, die genauso mittelmäßig ist wie ihr männlicher Konkurrent. Das bleibt richtig. Aber immer mehr Menschen denken offenbar darüber nach, ob der Mann in dem einstigen Traumpaar womöglich etwas weniger mittelmäßig ist als die Frau.

Doch die vormals Alternativlinge verhalten sich nicht anders als die DU. Sie folgen weiter dem, was sie für den innerparteilichen Mainstream halten – obwohl sich immer mehr herausstellt, dass er womöglich nicht das weiseste ist. In der SPD dagegen hat die Nomenklatura eingesehen, dass es wichtiger sein kann, nach außen zu schauen als nach innen. Deshalb scharen die Sozialdemokraten sich in ungewohnter Disziplin um einen Mann, der auf mehreren Parteitagen und in einer Mitglieder-Befragung durchgefallen ist. Da schimmert im geschrumpften Links-Verein doch wieder die gute alte Volkspartei aus Willy Brandts Zeiten durch.

Aber womöglich hat das Team um Annalena Baerbock das Ziel bereits aufgegeben. Oder wie soll ich es interpretieren, dass sie nicht mehr versuchen, auch ihnen fern stehende Menschen zu erreichen? Ein Auftritt bei Markus Lanz? Keine Zeit. Ein Interview mit der auflagenstärksten Wochenzeitung des Landes? Keine Zeit. Die „Bild am Sonntag“ hat diese Absage jetzt öffentlich gemacht. Sie brachte eine fast leere Seite mit dem Hinweis, dass dort ein Interview mit ihr hätte stehen sollen. Nimmt man/frau das hin, um auf diese Weise den alten Anti-Springer-Reflex der westdeutschen Linken zu remobilisieren? Mich jedenfalls stößt derlei Wagenburg-Mentalität kaum weniger ab als die Exhumierung des Antikommunismus durch die CDU.

„Der fliegende Frosch“ heißt ein kurzes Gedicht von Wilhelm Busch, das ich vor Jahren mit Blick auf die Möchte-Gern-Volkspartei FDP verwandt habe: „Wenn einer, der mit Mühe kaum / gekrochen ist auf einen Baum, /schon meint, dass er ein Vöglein wär’,/ so irrt sich der.“

Aktueller geht’s nicht.

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