Meine Bilder (2): Gerhard Richter – Rheinhausen

In dieser Abendstimmung hab ich das Werk nie gesehen. Rheinhausen war für mich ein Tagesjob. Die Manuskripte der Redaktion, in der ich meinen Semesterferien arbeitete, mussten früh fertig sein. Irgendwann am Nachmittag kam der Bote, ein freundlicher älterer Herr, und transportierte das Kuvert per Bus mit den Artikeln nach Duisburg, von wo es mit dem Auto weiter in die Druckerei nach Essen ging. Unvorstellbar in den heutigen Zeiten des Echtzeit-Journalismus. Auch ich stieg nach Redaktionsschluss in einen Linienbus. Er brachte mich in die entgegengesetzte Richtung. Nach Moers, wo ich damals wohnte.

Aber das Grafenschloss der einstigen Kreisstadt hatte nicht das Glück, von einem der berühmtesten Künstler der Welt gemalt zu werden. So steht das heute zu Duisburg gehörende Rheinhausen für die Erinnerung daran, wie ich mir große Teile meines Studiums finanziert habe. Nach einem Bericht des Berliner “Tagesspiel” hat eine Antiquitäten-Händlerin das Bild für wenig Geld von einem Mann gekauft, den sie schnell wieder vergessen hat. Lang staubte das 0,70 x 1,10 m große Ölgemälde erst über ihrem Esstisch ein, dann in der Diele. Irgendwann entdeckte sie auf der Rückseite eine handgeschriebene Adresse: “Gerd Richter, Hüttenstraße 71, Düsseldorf.” Sie wurde neugierig, recherchierte und bekam heraus: So kennzeichnete der heute teuerste Maler der Welt Anfang der 60er Jahre seine Bilder.

Die meisten Exemplare seines Jugendwerks hat er 1962 in einer heute legendären Aktion im Hof der Düsseldorfer Kunstakademie verbrannt. Reiner Zufall, dass die Auftragsproduktion für einen Bekannten “überlebte”. Auf Anfrage bestätigte Gerhard Richter seine Urheberschaft. Aber er war nicht bereit, “Rheinhausen” ins offizielle Verzeichnis seiner Werke aufzunehmen. Die Besitzerin wandte sich dann an das Berliner Auktionshaus Bassenge. Das erhoffte preistreibende Bieterduell zweier Richter-Verrückter kam zwar nicht zustanden. Aber am Ende erzielte das “verstoßene” Bild immerhin 340 000 Euro. (siehe dazu: Der Tagespiegel 1.12. 2012)

Ob ich das Werk ebenfalls verkauft oder lieber in eine Versicherung für einen “echten Richter” in meiner Wohnung investiert hätte – ich bin mir nicht sicher.

Meine Bilder (1): Franz Radziwill – Der Zeitungsleser sieht die Welt nicht mehr

Ich habe mir vorgenommen, zwischen meine Texte zu aktuellen Ereignissen regelmäßig Bilder einzustreuen, die mich umgeben. Von den meisten besitze ich nur Reproduktionen, von wenigen die Originale. Selbstverständlich werde ich meine Intentionen bei der Auswahl nicht verschweigen.

Es ist etliche Jahre her, dass ich eine Reproduktion dieses Bildes im “Spiegel” gesehen (7/1995, S. 19.) habe. Es hat mich auf Anhieb fasziniert. Zwei Männer sind in die Lektüre ihrer Zeitung versunken. Was um sie herum geschieht, scheint sie nicht zu interessieren. Eine Frau dagegen tritt aus einer Haustür und schaut einem Flugzeug nach. Der Himmel ist in bedrohliches Rot getaucht. Da ließe sich viel heraus und hinein interpretieren.

Ich habe das Bild durchaus persönlich genommen. Für mich stellt es ein Stück radikaler Medienkritik dar. Franz Radziwill hat das Bild 1950 gemalt. Damals waren Zeitungen das beherrschende aktuelle Medium außer dem Hörfunk.. Noch waren Zeitungsjournalisten die zentralen “Gatekeeper”, die das Tor bewachten, das zwischen den Menschen und der Wirklichkeit außerhalb ihrer unmittelbaren Umgebung steht.

Regelmäßige Fernseh-Sendungen gab es in beiden Teilen Deutschlands erst von 1952 an. Vom Internet war noch nicht die Rede. Von den “sozialen Medien” erst recht nicht. Dennoch gab es in den 1950er Jahren einen elitären bis reaktionären Kulturpessimismus. Ihn habe ich auch von meinen Gymnasiallehrern in den 60ern und 70ern mit Blick auf das Fernsehen erlebt, erst recht als es in Farbe daher kam.

Von dieser Einstellung ist Radziwills Bild sicher nicht frei. Dennoch bleibt seine düstere Vision für mich von erschreckender Aktualität.

Anlass des “Spiegel”-Artikels war eine Ausstellung in der Kunsthalle Emden. Gegründet hat sie der Erfinder und langjährige Chef des Magazins “Der Stern”, Henri Nannen. So konnte der leidenschaftliche Sammler seine Kunstwerke in eigenen Räumen in seiner Heimatstadt präsentieren. Das Bild stammt aus dem Fundus des Oldenburger Unternehmers Claus Hüppe, der sein Vermögen vor allem mit Duschvorhängen gemacht hat.

Meine frühere Ehefrau hat die Abbildung professionell reproduzieren lassen und mir vor Jahren zum Geburtstag geschenkt.

Mein langsamer Weg nach Berlin

Vor 30 Jahren hat das deutsche Volk, genauer gesagt: seine parlamentarische Vertretung, mein Leben grundlegend verändert. Ende Juni 1991 war das. In der Nacht vom 20. auf den 21. beschloss der Bundestag, seinen Sitz von Bonn nach Berlin zu verlegen. Die Entscheidung fiel denkbar knapp aus. Nur etwas mehr als 52 Prozent der Abgeordneten votierten dafür. Der Verlauf der Debatte, ihre Vorgeschichte und Folgen, sind oft geschildert und analysiert worden. Ich will mich hier auf meine persönliche Umzugsgeschichte konzentrieren.

Als Nachrichtenredakteur des „Kölner Stadt-Anzeiger“ hatte ich am Abend des 20. Juli 1991 Spätdienst. Gemeinsam mit unserer Bonner Korrespondentin Ada Brandes hab ich einen Aufmacher samt Schlagzeile erarbeitet, aus dem hervorging, dass den Ausschlag für diese anti-rheinische „Unrechtstat“ (Vorsicht: Ironie!) die FDP und die damals noch existierende PDS gegeben haben. Aus unterschiedlichen Grünen fanden wir beide Parteien nicht sonderlich sympathisch. Die Liberalen vielleicht sogar noch etwas weniger als die Postkommunisten, weil sie uns durch ihren Koalitionswechsel von der SPD zu CDU und CSU Helmut Kohl als Bundeskanzler eingetragen hatten. Aber das ist eine andere Geschichte…

Bis zur – leider grundlegenden – Renovierung zierte eine Kopie dieses historischen Dokuments die Wand über den Pinkelbecken im Herrenklo der „Ständigen Vertretung“ – der rheinischen Nostalgie-Kneipe unweit des Berliner Bundestages. Fotos davon sind leider mit dem Verlust eines meiner Handys verloren gegangen. Wer Karneval an der Spree erleben möchte – hier ist er nach wie vor richtig. Ernsthaft ging die Umsetzung des „Hauptstadt-Beschlusses“ vom Sommer 1999 an von statten.

Neulich wollte ich der Liebsten, die ich ohne diesen Umzug sicher nicht kennen gelernt hättet, meinen ersten Berliner Arbeitsplatz zeigen. Pech gehabt. Wir fanden nur eine Baugrube. Die ehemaligen Studios des DDR-Rundfunks in der Schadow-Straße Nr. 4 – 6, wo die meisten „Bonner“ ihren ersten Unterschlupf gefunden hatten, waren kein architektonisches Juwel. Platte pur. Trotzdem tat mir der Abriss weh. Die Dinger kommen auch in den Erinnerungen der beiden früheren westdeutschen DDR-Korrespondenten Peter Merseburger und Fritz Pleitgen vor, über die ich demnächst an dieser Stelle berichten werde.

Mich stürzte der Umzug in ein persönliches Dilemma, das über die Probleme hinaus ging, mit denen fast alle Kollegen damals zu tun hatten. Aber davon später mehr. Nicht lange zuvor war mein Traum in Erfüllung gegangen: Endlich raus aus dem „Bergwerk“ der Nachrichtenredaktion, hinein ins freie Korrespondenten-Leben. Bonn! Was gab es Besseres für einen politischen Journalisten… Im Inland jedenfalls. Und ziemlich frei war damals wirklich noch, wer aus der stellvertretenden Hauptstadt berichten durfte.

Den Abend, an dem mich der Ruf ereilte, werde ich nicht vergessen, auch wenn mir das Datum längst entfallen ist. Wir saßen beim Essen in Köln-Sülz. Wie immer war meine jüngere Tochter die Schnellste, als das Telefon klingelte. „Für Dich“ krähte sie durch den langen Flur. Es war noch die Vor-Handy-Zeit. Widerwillig erhob ich mich vom Küchentisch. Aus dem Hörer ertönte eine sonore Stimme: „Rudolph“. Der Klang war mir damals noch nicht geläufig. Was der gleichnamige Lokalredakteur wohl von mir wollen könnte? Keine Ahnung.

Das Rätsel war schnell gelöst. Der Anruf kam nicht aus der Breiten Straße, wo der „Stadt-Anzeiger“ damals noch residierte, sondern aus Berlin. Am andern Ende der Leitung saß Hermann Rudolph, der Chefredakteur des „Tagesspiegel“ . Er machte mir ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte. Ich sollte einer der beiden Bonner Korrespondenten des Westberliner Traditions-Blattes werden. Mein Vorgänger war Chefredakteur in seiner südwestdeutschen Heimat geworden. Aber warum nun ausgerechnet ich?

Normalerweise rekrutieren Redaktionen das Personal für derlei Posten aus ihren eignen Reihen. Beim „Tagesspiegel“ hatte damals aber keiner der in Frage kommenden Redakteure Lust, aus der preußischen Hauptstadt in die Rhein-Provinz zu wechseln. Die Namen der anderen „auswärtigen“ Kandidaten habe ich in den folgenden Jahren Zug zum Zug erfahren, die meisten persönlich kennen gelernt.

Um seine Ambitionen auch äußerlich zu dokumentieren, hatte das Blatt damals sein Format geändert. Es war nun so großflächig wie die führenden Zeitungen des Landes: „Süddeutsche“, „FAZ“, „Die Welt“. Pech nur, dass der Redaktions-Etat nicht entsprechend mitgewachsen war. Also scheiterten die Verhandlungen ein ums andere Mal am Geld. Denn die „Bonner“ wurden überdurchschnittlich gut bezahlt, hatten oft genug obendrein einen Dienstwagen – einst wichtiges Statussymbol derer, die sich im Journalismus „etwas Besseres“ dünken durften.

Das war meine Chance. Mein künftiger Chef kannte mich zwar nicht persönlich, aber einen nicht unwichtigen Teil meiner Arbeit. So hatte ich es in einem Leitartikel-Wettbewerb, den der „Tagesspiegel“ damals noch auslobte, immerhin bis in die letzte Runde gebracht. Außerdem kannte er die Mappe mit meinen besten Stücken aus einer (vergeblichen) Bewerbung bei der SZ, wo er zuvor das Politik-Ressort geleitet hatte. Das fällige Bewerbungsgespräch zeigte, dass die sprichwörtliche „Chemie“ zwischen uns stimmte. Also trat ich im Frühjahr 1993 meinen Dienst an – im „Bonn-Center“, einem unwirtlichen 18-Geschosser im Niemandsland zwischen Regierungsviertel und City. Auch diese (westliche) Hässlichkeit ist inzwischen abgerissen.

Eine Kuriosität am Rande: Wegen der notorischen Raum-Knappheit des Bundestages war hier auch die Gruppe der PDS untergebracht. Zu ihrem Ärger. Nicht wegen der vertrauten Architektur, die auch in Ost-Berlin hätte stehen können. Sondern wegen des Schmucks auf dem Dach. Denn wie auf dem West-Berliner Europa-Center drehte sich da oben ein nächstens beleuchteter Mercedes-Stern. Doch alle Proteste halfen nicht. Bis zum Umzug des Parlaments mussten Gregor Gysi und seine Genossen mit dem kapitalistischen Dings auf dem Dach leben.

Aber zurück zu meinem Dilemma. Ich hab’ zwar nie die magische Befürchtung geteilt, der Umzug würde die neue deutsche Politik in alten Imperialismus verfallen lassen. Aber ich war auch kein flammend begeisterter Berliner. Mein Standardsatz: Wenn der Ort eine so groß Bedeutung für die Politik hätte, dann müsste Washington eine Lösung des Drogenproblems hervor gebracht haben und keinen drogensüchtigen Bürgermeister.

Deshalb konnte ich auch der positiven Annahme wenig abgewinnen, die Politik werde in der gesamtdeutschen Großstadt Berlin den Problemen des Landes näher sein als im vergleichsweise idyllischen Bonn – insbesondere denen des Zusammenwachsens der beiden so ungleichen Teile. Heute fürchte ich allerdings, wären „wir“ in Bonn geblieben, die Zwietracht zwischen der Politik und einem großen Teil der Bürgerschaft, zumal im Osten, wäre noch größer.

Aber mein Hauptproblem mit dem ersehnten Wechsel ins Zentrum der Politik war nicht politischer, sondern persönlicher Natur. Denn meine damalige Ehefrau hatte mit dem Umzug nichts im Sinn. Sie hätte beruflich völlig neu anfangen müssen. In diesem Konflikt klafften die Sollbruchstellen unserer Beziehung immer weiter aus einander. Am Ende ist die Ehe daran gescheitert. Das ging auch anderen Kollegen so.

Die Frauen mochten den (damals meist männlichen) Korrespondenten nicht mehr so umstandslos folgen wie es früher war, als sie ihnen oft noch als nebenamtliche Sekretärinnen, ja: „dienten“. Ist es das wert, lautete eine vieldiskutierte Frage. So kam es zu etlichen, wie ein kluger Kollege formulierte, „Bilanztrennungen“. Ein anderer, bei dem es gut gegangen war, erinnerte sich: „Wir haben innerlich noch einmal geheiratet.“

Obwohl sich ein beruflicher Traum erfüllt hatte, bin ich also nicht uneingeschränkt euphorisch nach Berlin gezogen. Eine Zeit lang habe ich sogar mit dem Gedanken kokettiert: Als Rentner werde ich zurück ins Rheinland ziehen. Aber einmal davon abgesehen, dass es in Köln nicht einfacher ist, eine bezahlbare Wohnung zu finden als in Berlin. Ich habe hier eine neue Liebe gefunden, die in diesen Tagen schon zehn Jahre hält.

Korrekt ausgedrückt müsste ich sogar von zwei neuen Lieben sprechen. Denn bevor ich meine heutige Ehefrau kennen gelernt habe, fand ich eine Leidenschaft, wie ich sie zuvor noch nie hatte: Das Tanzen. Erst Standard und Latein. Dann (argentinischen) Tango. Für mich war das neu. Denn bis dahin hatte mich ausschließlich mein journalistischer Beruf ausgefüllt. Samt seinem Drumherum. Nun hatte ich etwas, das nicht zuvörderst kopf- und politikgesteuert war.

Begonnen hat diese Liebe nicht an der Spree, sondern an der Elbe. Meine damalige Freundin hatte mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, sie auf einen Ball zu begleiten. Nach Dresden. Über die notwendige Kleidung verfügte ich. Hinreichend Neugier auch. Nach anfänglicher Unsicherheit trugen mich die Freude der Partnerin im Verbund mit meinem Rhythmus-Gefühl und der Erinnerung an meine Tanzstundenschritte durch den Abend. Irgendwann entfuhr mir dann der entscheidende Satz: „Eigentlich könnte man auch mal einen Tanzkurs machen.“ So geschah es.

Die Suche nach geeigneten Lokalitäten, insbesondere solchen, in denen es Live-Musik gibt, führte mich dann im Wortsinn von West nach Ost, von Süd nach Nord quer durch Berlin und rundherum. So hat meine neue Leidenschaft dazu beigetragen, dass ich meine neuen Arbeits- und Wohnort immer besser kennen gelernt habe. Auf diese Weise ist Berlin zu meiner Stadt geworden. Wäre Pathos mir nicht fremd – vielleicht werde ich es irgendwann sogar einmal Heimat nennen.

Tschüß Mutti…

In diesem Aufzug sieht sie wirklich aus wie “Mutti” – obwohl der respektlos/respektvolle Spitzname für Angela Merkel längst aus der Mode gekommen ist. Die Bundeskanzlerin liebt es, mit den Farben der schier unzähligen Exemplaren aus aus dem Arsenal ihrer kragenlosen Blazer politische Signale zu setzen. Doch bei ihrem wohl letzten Auftritt im Deutschen Bundestag wollte sie sich partout bei keinem Akzent erwischen lassen, der für die Zukunft deutbar gewesen wäre. In dieser Woche geht die 19. Wahlperiode zu Ende – die 16 Jahre der ersten Frau, der ersten Ostdeutschen im Kanzleramt auch. Nun wird es Bilanzen hageln in jeder Art von Medien. Meinen persönlichen Schlussstrich unter die “Ära Merkel” hab ich schon vor einiger Zeit in der “Berliner Zeitung” gezogen, kurz bevor ich selbst meine berufliche Laufbahn beendet habe. Ich sehe keinen Grund, daran etwas zu ändern. Zur aktuellen Politik werde ich mich mit neuen Texten zu Wort melden.

Demnächst in diesem Theater

Ich gebe zu: Ich hab’ sie gewählt. Ein einmaliger Ausrutscher hatte das sein sollen – damals vor 13 Jahren. Das Land schien mir reif für eine Frau an der Spitze der Bundesregierung. Nach mehr als einem halben Jahrhundert Männerherrschaft in der zweiten deutschen Republik. So wie es 1969 Zeit gewesen war für einen sozialdemokratischen Bundeskanzler. Nach 20 Jahren CDU-Staat. Willy Brandt und Angela Merkel: Aus meiner Sicht stehen die beiden für historische Wegmarken. Politisch, gesellschaftlich. Vor diesem denkwürdigen 19. September 2005 hatte ich stets eine meiner beiden Stimmen der SPD gegeben – selbst während jener pseudorevolutionären Verwirrung, der ich wie andere meiner Generationsgenossinnen und -genossen für kurze Zeit anheim gefallen bin.Doch um Merkel ins Kanzleramt zu beamen, musste ich mein Kreuz bei der CDU machen – jener Partei, deretwegen ich jahrelang rote Socken trug, als textilen Protest gegen ihre gleichnamige Kampagne zur Herabsetzung der Linken in Deutschland. Die Entscheidung fiel mir also nicht leicht. Aber nach unserem Wahlrecht war sie alternativlos.

Der schwarze Stammwähler

Maliziös summte ich Hans Albers’ „Beim ersten Mal, da tut’s noch weh“, als ich meine Briefwahlunterlagen ausfüllte. Dabei war ich mir sicher: Eine Wiederholung würde es nicht geben. Ein symbolischer Akt. Mehr nicht! Dass ich für die nächsten Jahre zum schwarzen Stammwähler mutieren würde … unvorstellbar. Wenn es anders kam, haben daran außer Angela Merkel auch Willy Brandts Enkel mitgewirkt – und zwar keineswegs bloß, weil sie bis heute keine Kanzlerkandidatin zustande gebracht haben. Denn auch dies gestehe ich: Anders als diese hat Angela Merkel es geschafft, mich von ihrer Politik zu überzeugen. Oder wenigstens von ihrem Stil.

Meine persönliche Wende begann am Wahlabend 2005 kurz nach 20.15 Uhr. Als CDU-Berichterstatter stand ich im Konrad-Adenauer-Haus und verfolgte den Auftritt Gerhard Schröders in der „Elefantenrunde“ der ARD – erst mit Amüsement, dann mit Fassungslosigkeit. Am Ende überwog selbst unter den CDU-Anhängern das Fremdschämen. Mit dem legendären Satz „Wir wollen doch mal die Kirche im Dorf lassen“, tat der Noch-Bundeskanzler so, als sei es selbstverständlich wieder an ihm, die Regierung zu bilden. Testosterongespeistes Wunschdenken. Aber meine Stimme für die CDU, von der ich damals noch niemandem erzählte, hatte Angela Merkel auch kein Glück gebracht. Ihre Partei erzielte das bis dahin schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Gemeinsam mit der CSU lag sie zwar vor der SPD. Doch für ihr bürgerliches Wunsch-Bündnis mit der FDP reichte es nicht zur Regierungsbildung.

In der Fernsehrunde machte die Kandidatin zunächst einen derangierten Eindruck. Wie wir inzwischen wissen, hatten die wichtigsten der CDU-Granden, die Merkel im internen Machtkampf unterlegen waren, gleich nach der ersten Hochrechnung begonnen, gegen sie zu konspirieren. Doch dann kam Schröder mit seinem breitbeinigen Optimismus. Plötzlich vertrieb ein erst erstauntes, dann ein befreites, immer mehr spöttisches Lächeln den Blues aus ihrer Miene. Dies war die Geburtsstunde der neuen Angela Merkel. Friedrich Merz, damals CDU/CSU-Fraktionschef im Bundestag, befand später bissig, der Sozialdemokrat habe seiner Rivalin die Kanzlerschaft „abschließend gesichert“.

„Aber das ist ja der reinste Kindergarten, Frau Bundeskanzlerin!“

Eine paar Jahre später habe ich an einer Gesprächsrunde im Kanzleramt teilgenommen. Da war die neue Merkel längst Routine. Vertraulicher „Hintergrund“ vor einem europäischen Gipfel – eine gern genutzte Gelegenheit Merkels, ausgewählten Journalisten ihre Stärken vorzuführen. Denn innenpolitisch lief es, wie so oft, eher suboptimal für die Kanzlerin. Aber hier zeichnete sie souverän die internationalen Konfliktlinien nach, nicht ohne ein paar persönliche Seitenhiebe gegen einige ihrer Amtskollegen. In ähnlichen Veranstaltungen zur Lage der CDU wusste sie mit perfekten Parodien von Präsidiumsmitgliedern zu unterhalten.

Die Probe ihres kabarettistischen Talents animierte einen der anwesenden Herrn zum entgeisterten Zwischenruf: „Aber das ist ja der reinste Kindergarten, Frau Bundeskanzlerin!“ Mit der reifen, vielfach erprobten Form jenes Schmunzelns, das zu praktizieren sie am Wahlabend begonnen hatte, entgegnete Merkel: „Aber das ist es doch, worauf wir setzen können – das Kind im Manne.“ Von „Mutti“ sprach damals noch niemand. Das Wort kam erst auf, als in den Respekt vor ihrer (Herrschafts-)Leistung zunächst ironisch der Überdruss an ihrer Überlegenheit einsickerte. An die Stelle von Helmut Kohls bräsigem Paternalismus war Angela Merkels aufgeklärtes Matriarchat getreten. „Sie kennen mich“, beendete sie ihren Auftritt im TV-Duell vor der Bundestagswahl 2013. Mehr war damals noch nicht nötig für einen fulminanten Sieg. Das änderte sich erst, als eine neue Partei Merkels Behauptung, die Politik ihrer Regierung in der Eurokrise sei alternativlos, zum Muster für ihren Namen nahm: Alternative für Deutschland.

Der informelle „Inner Circle“

Ob die Kanzlerin ihren Anteil an diesem Umbruch mit einer Portion Selbstkritik registierte – wir wissen es nicht. Denn zu den Besonderheiten des „Systems Merkel“ gehört das Gesetz der „Omerta“. Wer eintritt in den engsten Kreis ihrer Macht, verpflichtet sich zum Schweigen. Mögen die Gremien der Partei sich streiten, aus dem informellen „Inner Circle“ dringt nichts nach außen. Da ist es schon viel, wenn man erfährt, dass auch hier nicht allemal eitel Zufriedenheit herrscht mit der trockenen Rhetorik der Chefin. „Wir haben ihr immer wieder einige Gags in ihre Parteitagsreden geschrieben“, hat mir einmal jemand erzählt. „Aber die streicht sie regelmäßig raus.“

Zeigt die große Kühle aus dem Nordosten nie Emotionen? Ich musste lange überlegen, bis mir eine Episode aus uralten Zeiten einfiel. Da herrschte Merkel bei einem Besuch in der Provinz Journalisten an, die bei einer Darbietung heimischer Folklore nicht aufhören mochten zu rumoren: „Jetzt halten Sie doch endlich mal die Fresse!“ Gern wäre ich Zeuge ihrer Grobheiten gewesen, wenn es um wichtigere Dinge ging.

„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“

Gut erinnere ich mich an die Anfänge ihres ersten Kabinetts. Die SPD war schon damals frustriert. Sie kratze ihr „die letzte Butter vom Brot“, barmte Kurt Beck, einer der vielen Vorsitzenden der Konkurrenz, mit denen sie zu tun hatte. Aber auch in der Union grassierte Unzufriedenheit, weil Merkel eher mit deren Themen reüssierte als mit denen der eigenen Partei. Von „asymetrischer Demobilisierung“ war die Rede. Auf Deutsch: Sie lockte zwar nicht so viele eigene Anhänger vom Sofa, dafür mobilisierte sie nicht so stark den Widerstand der Gegner, wie es Helmut Kohl und Edmund Stoiber getan hatten. Ich mochte sie gerade deshalb.

Als langjährigem SPD-Wähler mit grünen Sympathien konnte mir Merkels eklektischer Regierungsstil ohne Pathos und Pleureusen recht sein. „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“ – aus dem Munde Helmut Schmidts hatte ich den Satz schrecklich gefunden. An Merkels Politik schätze ich diese Maxime auch, weil sie unausgesprochen blieb. Die Hamburger Pfarrerstochter Angela Merkel ist gläubige Christin, wie der Hamburger Weltkriegsoffizier. Beide verband in meinen Augen, was Max Weber „Verantwortungsethik“ genannt hat.

Ikone ihrer Flüchtlingspolitik

Mag sein, Merkels Poltik der offenen Grenze begann in diesem Sinne als pragmatischer Akt, weil der damalige österreichische Bundeskanzler Werner Faymann sie gebeten hatte, Druck aus dem Kesssel zu nehmen. Aber war da nicht doch noch mehr? Gingen ihr die Bilder der DDR-Bürger durch den Kopf, die nach Prag in die bundesdeutsche Botschaft geflüchtet waren? Ich habe sie damals beim Besuch in einer Berliner Asylunterkunft begleitet. Merkel mag es nicht, wenn fremde Menschen ihr zu nahe kommen. Doch zur Sorge ihrer Bodyguards bewegte sie sich höchst selbstverständlich in der Menge, die sie schnell eingekesselt hatte. Ein junger Syrer machte ein Selfie von sich und der Kanzlerin. Das Bild ging um die Welt – als Ikone ihrer Flüchtlingspolitik.

In jener Zeit sagte sie auch etwas, das mich schier umgehauen hat: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Wann je hätte ein deutscher Regierungspolitiker sich abseits aller Parteiräson so ungeschützt ins, jetzt scheint mir die abgegriffene Formulierung mal angebracht: Herz schauen lassen? Mich erinnert dieser Satz an Willy Brandts Kniefall vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos.

Schon deshalb bereue ich nicht, so lange die CDU gewählt zu haben. Um Merkels willen. Irgendwann habe ich meine „Sünde“ einer wichtigen Beraterin aus ihrem Umfeld gebeichtet. „Ach wissen Sie, Herr Kröter “, lautete ihre überraschende Antwort, „ich weiß gar nicht, ob es auf Dauer so gut ist, wenn Menschen wie Sie uns so ohne Weiteres wählen können.“ Sie kann beruhigt sein. Mit Merkels Abschied hat sich die Sache erledigt.

Berliner Zeitung, 10. 11. 2018

Warum ich Zeitungen auf Papier nicht vermisse…

Ich hab’ dieser Tage ein Experiment gemacht: Dass ich Zeitungen zur Probe abonniere, um sie nach der kostenfreien Probefrist wieder abzubestellen, ist an sich nichts Ungewöhnliches. Denn auch als (viel zu selten) sparsamer Rentner bin ich neugierig, was sich so tut in meiner alten Branche. Doch diesmal ging es mir nicht um den „Content“, oder wie wir früher formuliert haben: Um den Inhalt.

Nein, ich wollte einmal wieder wissen, wie das Speichermedium sich anfühlt, das die längste Zeit meiner Berufstätigkeit meine Texte transportiert hat. Also hab ich gegen alle aktuelle Gewohnheit die „Totholz“ (ich mag diese Frechheit der Online-Generation)-Ausgaben einer überregionalen Tages- und einer Wochenzeitung geordert.

Das Ergebnis ist ernüchternd. Gewohnt, selbst ein überdimensioniertes Riesen-Trumm wie „Die Zeit“ mit einer Hand auf dem Smartphone zu „bedienen“, find’ ich die hergebrachte Art der Lektüre vor allem eins: Umständlich! Auseinanderfalten, Umblättern, glatt Streichen, im Zweifel noch Mal in der Mitte knicken. Dabei Aufpassen, nichts auf dem Tisch vor mir umzuwerfen oder den Nebenmenschen zu touchieren. Undsoweiter…

Nicht zufällig sind die Journale in den traditionellen Wiener Kaffee-Häusern in spezielle Gestelle gespannt, die verhindern, dass die rechte Aufschlagseite herunterschlappt. So ist es möglich, in der einen Hand die Zeitung zu halten und mit der anderen zum Mokka oder zur Melange zu greifen. Aber zum Umblättern bedarf es eben doch wieder der zweiten Hand. Am Ende bleibt in jedem Fall ein Haufen Müll – den allerdings der Gast an der Donau praktischerweise nicht selbst zu entsorgen hat (Aus Schlafzimmer muss ich ihn selbst entfernen).

In einem Versandhaus hab ich in grauem Papierozän einmal ein Edelstahlgestell erworben, das ausgelesenen Zeitungen als Zwischenlager diente. Vorausgesetzt sie waren sorgsam gestapelt, geriet der Abfall auf diese Weise zum Denkmal der Informiertheit seines Besitzers. Meinen jüngsten Umzug hat dieser glänzende Ausweis überholter Aktualitäten allerdings nicht mehr mitgemacht. Mangels Masse. Zum Glück, denn die neue Wohnung ist erheblich kleiner als die alte. Da durfte auch ein großer Teil meiner Bücher nicht mit. Und neue werden nur für den E-Reader angeschafft.

Die probeweise Wieder-zur-Hand-Nahme zweier Zeugnisse des Papier-Zeitalters hat keinen der sachlichen Gründe entkräftet, aus denen ich schon vor Jahren meinen persönlichen Abschied von dieser Ära genommen habe. Nostalgie mag sich nicht einstellen. Die Magie der knisternden und knitternden „Haptik“, die eingefleischte Papierfans preisen – mich hat sie nicht erwischt.

Nein, dieser altmodischen Art der Lektüre wohnt für mich kein Zauber mehr inne. Und wenn ich in diesen Corona-Zeiten im Cafe dennoch wieder einmal ein „Totholz“-Blatt zur Hand nehme, meldet sich hernach umgehend mein persönliches Hygiene-Konzept mit einem unwiderstehlichem (Hände-)Waschzwang.

In alten Zeiten wurde der Nutzen der Zeitung für deren Nichtleser gern ironisch mit ihrer Eignung zum Verpackungsmaterial auf dem Wochenmarkt gepriesen. Ich persönlich schätze bis heute eher eine andere Sekundärfunktion: Als Student habe ich vor Jahrzehnten begonnen, sie zum Streifen freien Fester Putzen zu benutzen. Daher werde ich meinen kleinen Proben-Vorrat in Ehren halten.

PS: Nur an einer Stelle flog mich ein Hauch minimaler Emotion an: Schnell angekleidet zum Briefkasten zu huschen, um die Zeitung heraus zu fischen, ich weiß auch nicht warum, das hat was…

Neue Heimat

Neue Heimat

https://youtu.be/OQ4oaLUilBc
Kayleigh. Marrillon – hier gedreht – Film dazu hier gedreht

Jedem Anfang wohnt ein Abschied inne. In unserem Fall sogar zwei. Von einer Straße. Von einer Freundschaft. Deren Ende führte zum Ortswechsel. Ich will mich hier auf den geografischen Aspekt beschränken.

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