Vor 30 Jahren hat das deutsche Volk, genauer gesagt: seine parlamentarische Vertretung, mein Leben grundlegend verändert. Ende Juni 1991 war das. In der Nacht vom 20. auf den 21. beschloss der Bundestag, seinen Sitz von Bonn nach Berlin zu verlegen. Die Entscheidung fiel denkbar knapp aus. Nur etwas mehr als 52 Prozent der Abgeordneten votierten dafür. Der Verlauf der Debatte, ihre Vorgeschichte und Folgen, sind oft geschildert und analysiert worden. Ich will mich hier auf meine persönliche Umzugsgeschichte konzentrieren.
Als Nachrichtenredakteur des „Kölner Stadt-Anzeiger“ hatte ich am Abend des 20. Juli 1991 Spätdienst. Gemeinsam mit unserer Bonner Korrespondentin Ada Brandes hab ich einen Aufmacher samt Schlagzeile erarbeitet, aus dem hervorging, dass den Ausschlag für diese anti-rheinische „Unrechtstat“ (Vorsicht: Ironie!) die FDP und die damals noch existierende PDS gegeben haben. Aus unterschiedlichen Grünen fanden wir beide Parteien nicht sonderlich sympathisch. Die Liberalen vielleicht sogar noch etwas weniger als die Postkommunisten, weil sie uns durch ihren Koalitionswechsel von der SPD zu CDU und CSU Helmut Kohl als Bundeskanzler eingetragen hatten. Aber das ist eine andere Geschichte…
Bis zur – leider grundlegenden – Renovierung zierte eine Kopie dieses historischen Dokuments die Wand über den Pinkelbecken im Herrenklo der „Ständigen Vertretung“ – der rheinischen Nostalgie-Kneipe unweit des Berliner Bundestages. Fotos davon sind leider mit dem Verlust eines meiner Handys verloren gegangen. Wer Karneval an der Spree erleben möchte – hier ist er nach wie vor richtig. Ernsthaft ging die Umsetzung des „Hauptstadt-Beschlusses“ vom Sommer 1999 an von statten.
Neulich wollte ich der Liebsten, die ich ohne diesen Umzug sicher nicht kennen gelernt hättet, meinen ersten Berliner Arbeitsplatz zeigen. Pech gehabt. Wir fanden nur eine Baugrube. Die ehemaligen Studios des DDR-Rundfunks in der Schadow-Straße Nr. 4 – 6, wo die meisten „Bonner“ ihren ersten Unterschlupf gefunden hatten, waren kein architektonisches Juwel. Platte pur. Trotzdem tat mir der Abriss weh. Die Dinger kommen auch in den Erinnerungen der beiden früheren westdeutschen DDR-Korrespondenten Peter Merseburger und Fritz Pleitgen vor, über die ich demnächst an dieser Stelle berichten werde.
Mich stürzte der Umzug in ein persönliches Dilemma, das über die Probleme hinaus ging, mit denen fast alle Kollegen damals zu tun hatten. Aber davon später mehr. Nicht lange zuvor war mein Traum in Erfüllung gegangen: Endlich raus aus dem „Bergwerk“ der Nachrichtenredaktion, hinein ins freie Korrespondenten-Leben. Bonn! Was gab es Besseres für einen politischen Journalisten… Im Inland jedenfalls. Und ziemlich frei war damals wirklich noch, wer aus der stellvertretenden Hauptstadt berichten durfte.
Den Abend, an dem mich der Ruf ereilte, werde ich nicht vergessen, auch wenn mir das Datum längst entfallen ist. Wir saßen beim Essen in Köln-Sülz. Wie immer war meine jüngere Tochter die Schnellste, als das Telefon klingelte. „Für Dich“ krähte sie durch den langen Flur. Es war noch die Vor-Handy-Zeit. Widerwillig erhob ich mich vom Küchentisch. Aus dem Hörer ertönte eine sonore Stimme: „Rudolph“. Der Klang war mir damals noch nicht geläufig. Was der gleichnamige Lokalredakteur wohl von mir wollen könnte? Keine Ahnung.
Das Rätsel war schnell gelöst. Der Anruf kam nicht aus der Breiten Straße, wo der „Stadt-Anzeiger“ damals noch residierte, sondern aus Berlin. Am andern Ende der Leitung saß Hermann Rudolph, der Chefredakteur des „Tagesspiegel“ . Er machte mir ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte. Ich sollte einer der beiden Bonner Korrespondenten des Westberliner Traditions-Blattes werden. Mein Vorgänger war Chefredakteur in seiner südwestdeutschen Heimat geworden. Aber warum nun ausgerechnet ich?
Normalerweise rekrutieren Redaktionen das Personal für derlei Posten aus ihren eignen Reihen. Beim „Tagesspiegel“ hatte damals aber keiner der in Frage kommenden Redakteure Lust, aus der preußischen Hauptstadt in die Rhein-Provinz zu wechseln. Die Namen der anderen „auswärtigen“ Kandidaten habe ich in den folgenden Jahren Zug zum Zug erfahren, die meisten persönlich kennen gelernt.
Um seine Ambitionen auch äußerlich zu dokumentieren, hatte das Blatt damals sein Format geändert. Es war nun so großflächig wie die führenden Zeitungen des Landes: „Süddeutsche“, „FAZ“, „Die Welt“. Pech nur, dass der Redaktions-Etat nicht entsprechend mitgewachsen war. Also scheiterten die Verhandlungen ein ums andere Mal am Geld. Denn die „Bonner“ wurden überdurchschnittlich gut bezahlt, hatten oft genug obendrein einen Dienstwagen – einst wichtiges Statussymbol derer, die sich im Journalismus „etwas Besseres“ dünken durften.
Das war meine Chance. Mein künftiger Chef kannte mich zwar nicht persönlich, aber einen nicht unwichtigen Teil meiner Arbeit. So hatte ich es in einem Leitartikel-Wettbewerb, den der „Tagesspiegel“ damals noch auslobte, immerhin bis in die letzte Runde gebracht. Außerdem kannte er die Mappe mit meinen besten Stücken aus einer (vergeblichen) Bewerbung bei der SZ, wo er zuvor das Politik-Ressort geleitet hatte. Das fällige Bewerbungsgespräch zeigte, dass die sprichwörtliche „Chemie“ zwischen uns stimmte. Also trat ich im Frühjahr 1993 meinen Dienst an – im „Bonn-Center“, einem unwirtlichen 18-Geschosser im Niemandsland zwischen Regierungsviertel und City. Auch diese (westliche) Hässlichkeit ist inzwischen abgerissen.
Eine Kuriosität am Rande: Wegen der notorischen Raum-Knappheit des Bundestages war hier auch die Gruppe der PDS untergebracht. Zu ihrem Ärger. Nicht wegen der vertrauten Architektur, die auch in Ost-Berlin hätte stehen können. Sondern wegen des Schmucks auf dem Dach. Denn wie auf dem West-Berliner Europa-Center drehte sich da oben ein nächstens beleuchteter Mercedes-Stern. Doch alle Proteste halfen nicht. Bis zum Umzug des Parlaments mussten Gregor Gysi und seine Genossen mit dem kapitalistischen Dings auf dem Dach leben.
Aber zurück zu meinem Dilemma. Ich hab‘ zwar nie die magische Befürchtung geteilt, der Umzug würde die neue deutsche Politik in alten Imperialismus verfallen lassen. Aber ich war auch kein flammend begeisterter Berliner. Mein Standardsatz: Wenn der Ort eine so groß Bedeutung für die Politik hätte, dann müsste Washington eine Lösung des Drogenproblems hervor gebracht haben und keinen drogensüchtigen Bürgermeister.
Deshalb konnte ich auch der positiven Annahme wenig abgewinnen, die Politik werde in der gesamtdeutschen Großstadt Berlin den Problemen des Landes näher sein als im vergleichsweise idyllischen Bonn – insbesondere denen des Zusammenwachsens der beiden so ungleichen Teile. Heute fürchte ich allerdings, wären „wir“ in Bonn geblieben, die Zwietracht zwischen der Politik und einem großen Teil der Bürgerschaft, zumal im Osten, wäre noch größer.
Aber mein Hauptproblem mit dem ersehnten Wechsel ins Zentrum der Politik war nicht politischer, sondern persönlicher Natur. Denn meine damalige Ehefrau hatte mit dem Umzug nichts im Sinn. Sie hätte beruflich völlig neu anfangen müssen. In diesem Konflikt klafften die Sollbruchstellen unserer Beziehung immer weiter aus einander. Am Ende ist die Ehe daran gescheitert. Das ging auch anderen Kollegen so.
Die Frauen mochten den (damals meist männlichen) Korrespondenten nicht mehr so umstandslos folgen wie es früher war, als sie ihnen oft noch als nebenamtliche Sekretärinnen, ja: „dienten“. Ist es das wert, lautete eine vieldiskutierte Frage. So kam es zu etlichen, wie ein kluger Kollege formulierte, „Bilanztrennungen“. Ein anderer, bei dem es gut gegangen war, erinnerte sich: „Wir haben innerlich noch einmal geheiratet.“
Obwohl sich ein beruflicher Traum erfüllt hatte, bin ich also nicht uneingeschränkt euphorisch nach Berlin gezogen. Eine Zeit lang habe ich sogar mit dem Gedanken kokettiert: Als Rentner werde ich zurück ins Rheinland ziehen. Aber einmal davon abgesehen, dass es in Köln nicht einfacher ist, eine bezahlbare Wohnung zu finden als in Berlin. Ich habe hier eine neue Liebe gefunden, die in diesen Tagen schon zehn Jahre hält.
Korrekt ausgedrückt müsste ich sogar von zwei neuen Lieben sprechen. Denn bevor ich meine heutige Ehefrau kennen gelernt habe, fand ich eine Leidenschaft, wie ich sie zuvor noch nie hatte: Das Tanzen. Erst Standard und Latein. Dann (argentinischen) Tango. Für mich war das neu. Denn bis dahin hatte mich ausschließlich mein journalistischer Beruf ausgefüllt. Samt seinem Drumherum. Nun hatte ich etwas, das nicht zuvörderst kopf- und politikgesteuert war.
Begonnen hat diese Liebe nicht an der Spree, sondern an der Elbe. Meine damalige Freundin hatte mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, sie auf einen Ball zu begleiten. Nach Dresden. Über die notwendige Kleidung verfügte ich. Hinreichend Neugier auch. Nach anfänglicher Unsicherheit trugen mich die Freude der Partnerin im Verbund mit meinem Rhythmus-Gefühl und der Erinnerung an meine Tanzstundenschritte durch den Abend. Irgendwann entfuhr mir dann der entscheidende Satz: „Eigentlich könnte man auch mal einen Tanzkurs machen.“ So geschah es.
Die Suche nach geeigneten Lokalitäten, insbesondere solchen, in denen es Live-Musik gibt, führte mich dann im Wortsinn von West nach Ost, von Süd nach Nord quer durch Berlin und rundherum. So hat meine neue Leidenschaft dazu beigetragen, dass ich meine neuen Arbeits- und Wohnort immer besser kennen gelernt habe. Auf diese Weise ist Berlin zu meiner Stadt geworden. Wäre Pathos mir nicht fremd – vielleicht werde ich es irgendwann sogar einmal Heimat nennen.