Jasper Johns hat dies Bild 1961 gemalt. An der Karte der Vereinigten Staaten von Amerika wird sich so schnell nichts ändern – auch nicht, nachdem Donald Trump mit überraschend klarer Mehrheit zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt worden ist. Nr. 47 seit 1789. Ändern wird sich auch nichts am Rang dieses Kunstwerks. Ein Riesenformat. Zwei Meter hoch, drei Meter breit. Gemalt in kräftigen bunten Farben mit kräftigen Pinselstrichen.
Ich bin fasziniert davon, seit ich es zum ersten Mal im Original gesehen habe. 1978 gab es im Kölner Museum Ludwig eine große Werkschau. Der Künstler hat auch viel mit Flaggen experimentiert. Ein paar Jahre vor dieser Landkarte ist eine weiße Fahne entstanden. Hoch aktuell, in diesen Tagen. Aber ich verkneife mir jeden politischen Kommentar.
Die Stadt Köln hat dem Ehepaar Peter und Irene Ludwig eine der bedeutendsten Sammlungen von Kunst des 20. Jahrhunderts weltweit zu verdanken. Eine Art deutsches Museum of Modern Arts gleich neben dem Dom, dem historischen Wahrzeichen der Stadt. Ich bin oft dort gewesen, auch als ich längst fortgezogen war. Hier und in anderen Museen hab ich mir stets gern Poster zur Erinnerung gekauft. Als ich mit meiner Liebsten noch eine Wohnung mit einem fast 20 Meter langen Flur bewohnte, war auch genug Platz für die Plakate. Und für meine Bücherregale. Aber das ist eine andere Geschichte, über die ich in meinem Text „Bücher sind Müll. Oder?“ in diesem Blog geschrieben habe.
Bei der Erinnerung an Jasper Johns wollte ich ausnahmsweise einmal sparsam sein. Ich bin als politischer Korrespondent erst in Bonn, dann in Berlin alle Jahre wieder in New York gewesen – zur Eröffnung der UN-Vollversammlung. Und in den USA waren die Poster erheblich billiger als daheim. Also hab ich bei der nächsten Visite einen Abstecher ins Moma gemacht und ein Jasper-Johns-Plakat erworben.
Zunächst war ich verwundert über die Größe der Rolle. Aber dann dachte ich: Ok, hier werden die Plakate eben anders gerollt. Denkste. Zuhause musste ich feststellen, auch das Poster war von riesiger Dimension. War nix mit Sparen. Denn das Teil zu Rahmen und mit Firniss gegen das Vergilben zu schützen kostete knapp einen Tausender. Aber daran denke ich nicht, wenn ich morgens aufwache und auf die Karte der USA in der Version von Jasper Johns neben unserem Bett schaue. Meine Freude daran vermag auch der aktuelle Präsident nichts zu ändern.
Es gibt Sätze, die man nicht so leicht vergisst. Diesen zum Beispiel: „Bücher sind Müll!“ Er ist mir vor einiger Zeit wieder eingefallen, als ich in meinem alten Berliner Kiez herum gestromert bin. „50 Prozent“ und „Wir schließen“ stand da in dicken Lettern auf die Schaufenster der „Bücherhalle“ geklebt. Das war einmal ein riesiges Modernes Antiquariat mit tausenden von Büchern aller größen und Genres.
Als ich noch „umme Ecke“ gewohnt und zur arbeitenden Bevölkerung gezählt habe, bin ich dort regelmäßig auf meinem Weg zur U-Bahn vorbei gekommen. Die Auslagen waren wohl sortiert und wurden immer wieder aktualisiert – wie in einem Geschäft für neue Bücher.
Deshalb habe ich eines Tages hoffungsvoll vor dem Besitzer gestanden. Ich dachte, sein modernes Antiquariat sei der beste Ort, um bei der zwangsweisen Verkleinerung meiner heimischen Bibliothek durch Umzug in eine erheblich kleinere Wohnung wenigstens noch ein paar Euro zu erlösen. Denn bei den einschlägigen Internetportalen gibt’s nach beträchtlichem bürokratischem Aufwand nur ein paar Cent pro Band. Doch der gute Mann enttäuschte mich mit der ernüchternden Lehre: „Bücher sind Müll!“
Einen großen Teil meiner recht stattlichen Bibliothek habe ich dann verschenkt. Schräg gegenüber meiner früheren Wohnung gibt’s bis heute, was ich damals „Sozialbibliothek“ genannt habe. Da kann man seine Bücher in unbegrenzter Zahl hinbringen und pro Tag bis zu drei mitnehmen.
Da war immer etwas los. Das gilt auch für die Telefonzellen, die im Zeitalter des Smartphones ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt sind. Stattdessen kann man hier zensurfrei Bücher hineinstellen oder sie entnehmen. Neulich begegnete ich abends einem jungen Mann, der fast tanzte – so glücklich war er über einen Fund.
Ums in der Begrifflichkeit meiner studentischen Spätjugend zu formulieren: Die Bücher sind hier ihres Warencharakters beraubt. Sie sind keineswegs Müll. Sie haben bloß keinen Tauschwert mehr, der sich monetarisieren ließe. Aus der Sicht des Händlers sind sie daher „Müll“. Einen guten Teil seines Umsatzes hatte er übrigens mit „jungen“ alten Büchern erzielt. Ältere waren stets schwer zu verkaufen. Daher sein resignativer Befund.
Aber die jungen…
Professionelle Rezensenten, die ungefragt zugeschickte Bücher nicht mochten, konnten hier in der Tat einen Erlös erzielen. Und die Kundschaft der Bücherhalle bekam Fast-Neu-Erscheinungen zum halben Preis, sofern die Ware nicht älter war als höchstens ein halbes Jahr. Am besten nur ein viertel. Ab und an hab auch ich hier gekauft.
Ein erheblicher Teil meiner inzwischen reduzierten Bibliothek stammt aus meiner Zeit als Redakteur für die Seite „Das Politische Buch“ beim „Kölner Stadt-Anzeiger“. Damals hab ich fast alle unverlangt zugesandten Bücher noch behalten, auch wenn sie mich nicht interessierten. Aber es war einfach zu schön, wenn Besuch neu in unsere Wohnung kam und mit Blick auf meine Bücherregale ehrfurchtsvoll fragte: „Hast Du die alle gelesen?“ Ich pflegte dann mit lässigem Stolz zu anworten: „Nicht alle. . .“
Heute frage ich mich manchmal, ob ich mich nicht noch von ein paar Exemplaren mehr hätte trennen sollen. Aber Bücher sind halt nicht nur Bildungsgüter und soziale Distinktionsmerkmale, sondern auch Erinnerungsstücke.
Meine zehnbändige Ausgabe der Werke von Heinrich Heine etwa, herausgegegeben in der DDR, hab ich von einer Reise in die damals noch existierende Sowjetunion mitgebracht. Sie stammen aus der deutschsprachigen Buchhandlung in Taschkent. Ich hab ganz schön dran geschleppt. Aber der Preis war halt zu verführerisch.
Was hab ich sonst noch aufbewahrt? Die Gesamtausgabe der Werke von Bertolt Brecht. Na klar. Uta, meine erste Frau und ich besaßen sie zwei Mal – in der grauen Suhrkamp-Version und in der DDR-Ausgabe, die in rotes Leinen gebunden war. Ich behielt die graue. Die Rote war nicht ganz vollständig.
Komplett ist auch die Ausgabe der legendären Zeitschrft „Die Weltbühne“, die lange von Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky redigiert wurde. Nicht weit von einem ihrer Redaktionssitze habe ich einmal gewohnt.
Behalten hab ich obendrein meine Bände der Bibliothek Deutscher Klassiker. Sie wurde im Auftrag des DDR-Kulturministeriums von 1954 an herausgegeben und erschien bis kurz nach der deutschen Einheit in mehr als sieben Millionen Bänden – 74 meist mehrbändige Werkausgaben von Texten, deren Original zwischen 1488 und 1926 erschienen ist. Alls Bände sorgfältig in Leinen gebunden.
Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, anfangs an der Bearbeitung beteiligt, bilanzierte 1991, lange nach seiner Flucht in den Westen, die Edition sei „sensationell gewesen“: „In allen germanistischen Seminaren der Bundesrepublik hat man sich der Weimarer Ausgaben bedient“.
Zu den Werk- oder Gesamtausgaben in meinem Bestand gehören auch Klassiker dessen, was wir gewöhnlich als Trivialliteratur bezeichnen, also die Kriminalromans von Raymond Chandler, Dashil Hammet und Co. – unverkennbar in den schwarz-gelben Ausgaben des Diogenes-Verlages.
Zu den Klassikern zählt für mich auch die Reihe über das 87. Polizeirevier von Ed McBain, der auch unter anderen Pseudonymen veröffentlicht hat. Sie spielen in einer ungenannten Stadt, die aber unschwer als New York zu erkennen ist. Polizeiromane, wie es sie heut nicht mehr gibt. Ich besitze sie leider nicht alle in der gelben Taschenbuchausgabe von Ullstein. Aber inzwischen ist meine Sammlung auch aus anderen Verlagen komplett – eine „Commedia Humana“ in Form von Kriminalromanen.
Der irische hardboiled Autor Ken Bruen, auf den ich jüngst gestoßen bin, schildert einen seiner Protagonisten als Fan des 87. Polizeireviers. Seinen Hund hat er nach einem Polizisten des Reviers genannt: Meyer. Dass der Tausendsassa McBain auch das Drehbuch von Alfred Hitchcocks „Die Vögel“ vefasste, hab ich erst bei der Lektüre für den vorliegenden Text erfahren.
Gehaltvoll, aber schmal, deshalb gut vewahrbar selbt in einer kleinen Wohnung sind die Bände der rororo Bildmonographien, lange Zeit verfasst von renomierten Autoren wie Sebastian Haffner. Überhaupt hab ich vor allem Historische Biografien aufgehoben. Dazu ein paar wenige Darstellungen der Geschichte der Bundesrepublik – etwa von Ralf Dahrendorf und Alfred Grosser. Oder, ebenfalls ein Klassiker, Arnulf Barings Der 17. Juni 1953 oder die Bücher von Günter Gaus. Von ihm schau ich mir ab und zu auch eine seiner legendären Interviewsendungen an, die es zum Glück auf Youtube gibt. Aber das ist eine andere Geschichte…
Halbwegs gut bestückt sind auch meine drei Regalbretter zur Geschichte der populären Musik. Davon konnte ich im Text „Auf den Flügeln des(Protest)gesangs“ für meinen Blog www.kroesflanaden.de zehren. Hier kommt aktuell immer wieder ein wenig Tango hinzu. Denn die Bücher von Michael Lavocah über die Granden des Tango Argentino gibt es nur auf Papier. Ich hab sie als Tangoblogger weidlich ausgeschlachtet. www.kroestango.de ist aktuell nicht mehr erreichbar. Aber ich habe mir vorgenommen, einige Stücke wieder zugänglich zu machen, an denen mir besonders liegt. Das sind keineswegs jene, die seinerzeit die meisten Klicks erzielt haben.
Ansonsten kauf ich höchstens noch (und das eher selten) Kunstbildbände und Kataloge von Ausstellungen, die ich besucht habe. Soviel zu jenem Teil des „Mülls“, von dem ich mich nicht zu trennen vermag. Im übrigen hab ich mich auf e-books verlegt. Die nehmen nicht nur keinen Platz weg. Ich kann ihre Schriftgröße auch passend für meine schwächer gewordenen Augen einstellen.
Wo der ganze „Müll“ des Antiquars mit dem herben Humor gelandet ist? Ich weiß es nicht. Seine ehemaligen Räume stehen seit geraumer Zeit leer – wie so viele Ladenlokale in Berlin.
Nein, diese drei Bilder habe ich nicht selbst fotografiert oder gemalt. Ich habe sie nur über einander gehängt. Seit wann ich sie besitze? Keine Ahnung. Anders als der frühere BILDchef Kai Diekmann hab ich keine Assistentin, die mir für meine Erinnerungen eine Chronologie zusammenstellen kann. Ich neige nicht zu tagebuchähnlichen Aufzeichnungen. Und mein Gedächtnis wird auch nicht besser.
Das untere Bild stammt von Barbara Klemm, der großen alten Dame unter den (west)deutschen Fotografen. Es muss in den letzten Jahren der Kanzlerschaft von Helmut Kohl entstanden sein. Jedenfalls verfügte die Frankurter Allgemeine, für die Klemm arbeitete, damals noch über eine wöchtlich erscheinende Kupfertiefdruckbeilage mit hervoragenen großen Schwarz-Weiß-Fotos.
Ich fand (und finde) es faszinierend, wie Helmut Kohl da versonnen auf Plastiken führender Perönlichkeiten des deutschen Sozialsmus/Kommunismus schaut – von Walter Ulbricht bis Rosa Luxemburg. Es handelt sich offenbar um eine Austellung zur deutschen Einheit, die es ohne ihn wohl nicht so schnell gegeben hätte. Was ihm da durch den Kopf ging, können wir nur ahnen. Am linken Bildrand ist noch der Beginn des Slogans zu sehen: „Wir sind das Volk“.
Gibt es bei Fotos Originale? Spezielle Abzüge für Ausstellungen können jedenfalls sehr teuer sein. Ich hab damals Barbara Klemm angeschrieben und gefragt, ob sie ihre Bilder auch privat vekaufe und was eins koste. Eigentlich nicht, antwortete sie, aber weil ich so nett fragte… Ich solle doch ihrer Laborantin 30 (oder waren es 50?) Mark überweisen. Seither besitze ich also ein echtes Klemm.
Vom oberen Bild weiß ich die Quelle nicht mehr. Ich hab es aus der Zeitung ausgeschnitten. Nofrete war die Hauptgemalin des Pharao Echnaton und lebte im 14. Jahrhundert vor Beginn unserer Zeitrechnung. Ihre rätselhafte Schönheit fasziniert seit Generatioen. Die Geschichte ihres Abbilds ist eine eigene Geschichte, deren Beschreibung ganze Bibiotheken füllt. Auch hier können wir nur spekulieren, was der Betrachterin durch den Kopf geht. Sie dürfte sich zum Zeitpunkt der Aufnahme gerade im Zenit ihrer Macht befunden haben.
Zwei deutsche Regierungschefs, die man wegen der Länge ihrer Amtszeit schon zu Lebzeiten die „ewigen“ genannt hat, im Angesicht der Geschichte – mich hat diese Kombination gereizt.
Das dritte Bild hat mit den beiden anderen so gar nichts zu tum. Auf den ersten Blick jedenfalls. Auf den zweiten wird es etwas komplizierter – nicht bloß, weil es zu einer Kampagne gehört, die so etwas wie eine Revolution in der Bier-Werbung auslöste. Bis dahin wurden meist schwere Brauerpferde gezeigt, die das Gesöff in die Kneipen brachten. Und ähnliche Gemütlichkeiten, die man für volkstümlich hielt. Von nun an wurde es originell.
Bei dem Bild handelt es sich um Dummy. Einen Entwurf, an dem der damalige Freund und spätere Ehemann eine Volontärin beteiligt war, die ich beim Kölner Stadt-Anzeiger betreut habe. Sie hatte sich in Köln beworben, wurde dann aber zur Mitteldeutschen Zeitung geschickt, die damals zum selben Verlag gehörte. Wir haben uns nach ihrem Umzug regelmäßig getroffen. Sie hat mir von ihrem Problem erzählt als Untermieterin einer älteren Dame, vor allem aber als Westdeutsche im damals noch ziemlich frisch angeschlossenen Osten.
Irgendwann hab ich dann den Ruf des Tagespiegel nach Bonn bekommen, der mich schließlich nach Berlin führte. Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls hat sie mir zum Abschied dies Bild geschenkt mit dem wunderschön frisch gezapften Kölsch. Im Lauf der Zeit sind die Farben etwas veblasst und mit ihnen meine Sehnsucht nach dem Rheinland. Ich trinke auch längst kein Bier mehr. Aber bei meinen seltenen Visiten in Köln und wenn ich nach dem Besuch des Deutschen Theaters oder des Berliner Ensembles in der „Ständigen Vertretung“ einkehre, jener rheinischen Nostalgie-Kneipe am Schiffbauer Damm – dann muss es immer ein Kölsch sein. Als Apritif. Und zur Erinnerung.
Lange nicht mehr über Tango geschrieben. Ich hatte mir vorgenommen, die vorige Ausgabe der TANGODANZA lobend zu besprechen. Rund um einen Artikel des Münchener DJ Olli Eyding mit dem Titel „TangoYoung… und andere Initiativen gegen die Überalterung der Tangoszene“ (TD 3/24) hatte sie eine Reihe themenverwandter Texte gruppiert. Prima Schwerpunktbildung für ein zentrales Thema unserer Szene, fand ich. Dass Autor und Redaktion damit einen Sturm der Entrüstung entfachten, damit hatte wohl keiner der Beteiligten gerechnet. An der Spitze stürmte die bekannte Berliner Tango-Autorin Lea Martin. Aber davon später. . .
Meine Aufmerksamkeit wurde erst einmal von einem anderen Thema absorbiert. Auf der Suche nach Lesestoff war ich auf einen Krimi mit dem Titel „Waldeck“ gestoßen. So heißt eine Burgruine im Hunsrück. Dort fand von 1962 an das „Festival Chanson und Folklore international“ statt. Da ging es um Musik und Lieder von Franz Joseph Degenhardt, Hannes Wader und anderen, die mich lange vor dem Tango in ihren Bann geschlagen hatten. Ich versank für eine Weile in dieser Welt. Resultat war ein Artikel mit dem Titel „Auf den Flügeln des (Protest)gesangs“. Bis heute poste ich auf Facebook immer wieder Lieder aus jener Zeit. Fridolin Lützelschwab (Künstlername „El tigre Viejo“) einer meiner Lieblings DJs, legt in seinen Mixed Milongas ab und zu einen Walzer von Franz Joseph Degenhardt auf: „Die jungen Paare auf den Bänken“, seine deutsche Fassung des Chansons „Les amoureux des bancs publics“ von Georges Brassens. Womit wir bei meinem neuen Thema wären.
Für mich stammt der wichtigste Text in der neuen Tangodanza von Stefan Sagrowske: „Klassik, Neo oder Non? oder Die traditionellen Totengräber des Tango“ (TD 4/2024, S. 71f.) „Mich langweilen Milongas, die nur klassische Tangos bieten oder nur Neos wie Otros Aires und Quadro Nuevo. Oder nur Nons mit Rock und Pop, schreibt der Zeitungsredakteur aus Münster. „Ich möchte zu allem tanzen – und habe tatsächlich auch zu klassischen Nicht-Tango-Meisterwerken schon fantastische Tangos getanzt.“ Das versteh ich gut. Meine Liebste und ich können nicht still sitzen, wenn in unserer Lieblingsmilonga, im Tangocafe von Thomas Klahn im Berliner Bebop, „Fever“ ertönt.
Das Thema „Musik“ ist ein Dauerbrenner in unserer Szene. Gerhard Riedl, der „Last man standing“ unter den Tango-Bloggern, schreibt sich seit Jahren die Finger wund mit seiner Forderung nach Verbreiterung des Musik- Angebots und veröffentlicht immer wieder kommentierte „Piazzolla zum Tanzen“. Auch ich habe mich an diesem Thema versucht. In meinem stillgelegten Blog „mYlonga – Beobachtungen und Bemerkungen eines Tango tanzenden Flaneurs“ (kroestango.de) hab ich regelmäßig dogmatische Traditionalisten mit der Forderung nach Piazzolla in unserem Milongas genervt.
Vor etwas mehr als zehn Jahren ging die Sängerin Annette Postel mit einer Wortschöpfung „viral“, wie wir heute sagen würden. In einem „Offenen Brief“ in der TANGODANZA wetterte sie gegen die Dominanz des Klassischen Tango und forderte polemisch „Stoppt die Tango-Taliban!“ Mit ihrem „TT-Wort“ kann man Traditionalisten bis heute auf die Palme bringen. Seit einiger Zeit tritt Postel mit einem Programm auf, zu dem auch die satirische Verballhornung eines Tango-Klassikers von Homero Manzi und Lucio Demare gehört.
Stefan S. berichtet von einem Tango-Urlaub an der Nordsee. Da gab es in einem Meer von Klassik plötzlich zwei Inseln von Non-und Neotango. Zweimal volle Pista. Zweimal Applaus der TänzerInnen. Der Autor stellt klar, er und viele seiner Bekannten wollten „gar keine reine Irgendwas-Milonga. Wir würden uns über einen schönen Mix freuen, 50 Prozent Klassik, 30 Prozent Non und 20 Prozent Neo zum Beispiel“. Auch in Berlin, der angeblichen Tango-Hauptstadt Europas, ist derlei eher selten.
Wir hatten letztens Glück im Raum Göttingen. In zwei Milongas waren die Non/Neos in das Schema Tango/Vals/Milonga integriert. Bei der Aufforderung war der Cabeceo üblich, aber nicht Pflicht, verbales „Magst Du Tanzen“ von Männern wie Frauen kein Problem; ebenso die Integration ortfremder Gäste. Ob die gesellschaftliche Offenheit mit der musikalischen zu tun hatte? Gute Frage! Nächste Frage. . .
Aber so sehr ich Stefans Vorschlägen zustimme, seine Erwartung halte ich für eine Illusion – dass mit der „Verjüngung“ des Musikangebots auch dem Problem beizukommen
wäre, das die TANGODANZA in ihrer vorigen Ausgabe so vorbildlich beleuchtet hat: Die Überalterung der Tango-Gemeinde. Er habe „die 60 längst überschritten“, schreibt Stefan Sagrowske. Ich bin über 70 Jahre alt, der unermüdliche Gerhard Riedl nicht jünger. Sind wir nicht eher Teil des Problems als Teil der Lösung?
Ich weiß in Berlin von zwei Milongas mit deutlich jüngerem Publikum. In der einen gibt’s vor allem moderne Musik bis hin zum Electrotango, in der anderen ist „strictly classic“ angesagt. Bei meinen Besuchen im TANGOLOFT, der nicht nur musikalisch „buntesten“ Milonga der Stadt, hab ich kein signifikant jüngeres Publikum angetroffen. Was sagt uns das?
Er habe vor rund 30 Jahren mit dem Tango begonnen, als 25jähriger Student, berichtet der Münchener DJ und Tangoveranstalter Olli Eyding. (TD 3/24, S.14ff) „Heute kann man uns, die Generation der 50+, 60+ und 70+, in der deutschen Tangoszene nicht mehr ignorieren. Wir Boomer sind der Tango. Überall graues Haar, gereifte Menschen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen scheinen die einzigen Jungen die argentinischen Tanzlehrerpaare zu sein.“
Kaum anders ist mein Eindruck, wenn ich mich einmal im Jahr im Sommer beim Tango auf dem Berliner Breitscheidplatz vergnüge, den Judith Preuß mit ihrer Schule „Mala Junta“ organisiert.
Wegen meiner Parkinson-Erkrankung geh ich nicht mehr so oft tanzen wie früher. Aber hier sehe ich Menschen aus allen möglichen Teilen der Berliner Tangoszene – darunter kaum ein Gesicht, das ich nicht aus jenen Zeiten kenne, als ich noch zwei bis drei Mal in der Woche unterwegs war.
Ähnlich ging es mir übrigens, als Lea Martin in einer (Glückwunsch!) überfüllten Veranstaltung eine Auswahl ihrer Tango-Kolumnen vorlas: „Überall graues Haar, gereifte Menschen.“ (Olli Eyding)
Die Autorin sieht das anders: „Eine ‚Überalterung‘ festzustellen und dann auch noch was gegen sie unternehmen zu wollen, ist Ageism (Altersdiskriminierung, Th. K.)vom Feinsten“, schreibt sie in einer E-Mail an die TANNGODANZA. Sie findet es „zynisch, den Tango wie ein Produkt vermarkten zu wollen, dem eine Zielgruppe fehlt“. Nicht „wir Boomer“ seien der Tango. Vielmehr setze er sich „aus vielen einzelnen Menschen zusammen, die ihn lieben, pflegen, weitertragen.“ Der Begriff ´Überalterung` habe „in der Tangoszene nichts verloren.“
Er sei „nicht gerade ein schöner Begriff“ räumt eine weniger bekannte Leserin ein. Aber realistisch gesehen beschreibe er wohl einen Zustand, der „leider tatsächlich der Realität entspricht“, schreibt Ricarda Siebold.
Die Redaktion hebt in ihrem Editorial zur aktuellen Ausgabe hervor, sie habe keineswegs diskriminieren wollen, sondern „realistisch auf den demografischen Wandel hinweisen, der auf unseren Milongas spürbar“ sei: „Die Tangoszene altert sichtbar“ – „möglicherweise an manchen Orten mehr, an anderen weniger spürbar.“ Auf jeden Fall auch bei der Zeitschrift selbst: „Die meisten Abos werden ganz klar aus Altersgründen beendet – weil viele unserer Leserinnen und Leser schlichtweg mit dem Tanzen aufhören (müssen)“. Die verbliebene Leserschaft wird aufgefordert, ihre eigenen „Sichtweisen und Erfahrungen“ mitzuteilen. Denn vielleicht „wissen wir gar nicht genug über diejenigen, die nicht kommen, weil das, was sie auf der Milonga vorfinden, weit entfernt von ihrer Alterskohorte ist.“ Ich bin gespannt auf die Berichte in der nächsten Ausgabe.
PS: Zu meinen liebsten Rubriken in der TANGODANTA zählen die CD-Recensiones und die Hinweise auf argentinische oder deutsche Tangomusiker. Von ihnen lasse ich mich immer wieder gern zum Stöbern auf YT inspirieren – zum Beispiel durch eine Besprechung von Arnd Büssing.
Es wird Zeit, dass ich wieder zu einem Blick auf eins der Bilder einlade, die mich umgeben. In dies hier hab ich mich vor Jahren verliebt, als ich noch zum werktätigen Teil der Bevölkerung zählte. Es stammt von Hans Baluschek, einem meiner Berliner Lieblingsmaler. Sein Titel: Montag Morgen.
Wie die vier jungen Frauen unlustig bis erschöpft herumhängen – das drückte auch meine Stimmunng aus, wenn ich nach einem eben doch nicht arbeitsfreien Wochenende wieder ins Büro musste. Oder besser noch: Wenn ich es nicht geschafft hatte, nach einem Wochenende voller Tango einen freien Tag zu nehmen oder mir wenigstens einen späteren Arbeitsbeginn zu organisieren.
Baluschek gehörte zu den Malern, die Kaiser Wilhelm II. in einer berüchtigten Rede 1901 als „Rinnsteinkünstler“ bezeichnet hat, weil sie sich darum bemühten, die soziale Realität darzustellen. Viele von ihnen, an der Spitze Käthe Kollwitz, wurden Kommunisten. Baluschek dagegen blieb bis zu seinem Tod 1935 Sozialdemokrat.
Der „Montagmorgen“ zählt nicht zu seinen Hauptwerken. In Monografien wird es selten erwähnt. Ich hab es in einer Ausstellung im Berliner Bröhan-Musum entdeckt. Meine Kopie hat annähernd die Maße des Originals. Wer unsere Wohnung betritt, geht direkt auf das Gemälde zu. Aus meiner Sicht handelt es sich um ein höcht ungewöhnliches Motiv. Denn es zeigt kein soziales Elend oder familäre Vergnügungen aus dem Miieu der Arbeiterklasse. Nein, hier sind eigenständige junge Frauen zu sehen, wie ich sie eher in der Welt der Angestellten der 1920er Jahre erwarten würde, die Siegfried Kracauer so treffend beschrieben hat. Aber das Bild stammt vom 1899.
Welchem Beruf die vier nachgehen? Haben sie sich am Wochenende etwas dazu verdient, auf welche Weise auch immer? Oder haben sie sich schlicht vergnügt – es muss ja nicht beim Tango gewesen sein. Keine Ahnung.Jedenfalls müssen sie zum Wochenbeginn früh raus, obwohl ihnen die Tage und Nächte zuvor sichtlich noch in den Knochen stecken.
Die neueste Forschung hat im Werk des Künstlers versteckte Anspielungen auf Okkultismus und Spiritismus entdeckt, die es zu entschlüsseln gelte. Mag sein. In meinem Lieblingsbild finde ich davon so wenig wie von der „Elendsmalerei“ des übrigen Werkes.
Für mich ist der „Montagmorgen“ Hans Baluscheks modernstes Gemälde.
Ich war auf der Suche nach neuer Lektüre. Ein Krimi sollte es sein. Aber nichts mit den heute handelsüblichen Supergrausamkeiten. Und erst recht ohne Serienkiller. Da stieß ich plötzlich auf ein Wort, das mich elektrisierte: Waldeck. Waldeck? So heißt ein Krimi von Jürgen Heimbach. In der Geschichte gerät eine junge Frau mitten in den Aufbau zu einem neuen Liederfestival. D e m Festival. Der Autor verwendet sogar die ersten Sätze aus der Eröffnungsrede von Diethard Krebs.
2024 jährt sich das Ereignis zum 60. Mal. Den Krimi habe ich dann auch noch gelesen. Aber wichiger war erst einmal, zum Bücherregal zu eilen.
Da stand sie, griffbereit gleich rechts neben den Büchern über Tango: Die Dokumentation über „Die Burg Waldeck Festivals 1964 – 1969“. Ein Textband, dazu zehn CDs mit einem Querschnitt durch die Musik dieser Jahre. Richtig, da war doch auch noch… mit einem weiteren Griff hatte ich das Buch „Rotgraue Raben – vom Volkslied zum Folksong“ von Hein und Oss Kröher zur Hand. Die Zwillingsbrüder aus der Pfalz gehörten zur jugendbewegten Gründergeneration des Festivals. Der Titel spielt auf die Bundesfarben des Nerother Wandervogels an: Rot und Blau. Damit war meine Freizeitbeschäftigung erst einmal gesichert. Der geplante Artikel zu Michael Lavocahs Buch über Osvaldo Fresedo muss warten. Der Streit über die (Über)Alterung der Tangoszene, den die TANGODANZA losgetreten hat, muss ebenfalls ohne mich auskommen. Ich beschäftige mich erst einmal – wie immer höcht subjektiv in meinen Texten – mit der Waldeck und den Folgen.
Ich bin nie in der Ruine im Hunsrück gewesen. Auch die Fahrt oder Wanderung mit Zelt war nie mein Ding. Eine Jurte kenne ich nur aus der Literatur. Aber die Lieder, die auf der Waldeck gesungen wurden, die Künstler, von denen sie stammen, haben mich über die Jahre beschäftigt. Jedenfalls ein Teil von ihnen. Vielleicht sogar geprägt. Meine persönliche Entwicklung ging allerdings anders herum als im Buchtitel der Kröhers: Vom Folksong zum Volkslied.
In seinem Stück „Die alten Lieder“ hat Franz Josef Degenhardt, eine der prägenden Gestalten des Festivals, das Phänomen beschrieben: Menschen anderer Nationen singen ihre eigenen Lieder, nur wir Deutschen nicht die unseren – jedenfalls nicht soweit wir uns für politisch fortschrittlich halten.
Exemplarisch Hannes Wader, noch einer, dessen Kariere auf der Waldeck wenn nicht begonnen, aber doch Fahrt aufgemommen hat. Nach seinen eigenen Texten kam das gemeinsame Musizieren mit den angloamerikanischen „Folkfriends“, dann Lieder der Demokraten von 1848 und Lieder der deutschen Arbeiterbewegung – dann erst unpolitische deutsche Vokslieder. Zu sehr waren sie uns kontaminiert von Nazitradition und deutschen Männerchören. Und Heino…
Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal den wohltönenden Bass von Peter Rohland gehört habe. Eine wunderbare Stimme. Ein total altmodischer Gesangsstil. Schön, dass ich ihn wieder entdeckt habe. A propos entdecken: „Pitter“, wie er bei seinen jugendbewegten Freunden hieß, hat so einiges entdeckt: Landstreicherballaden, die er gemeinsam mit Schobert Schulz aufgenommen hat, Lieder der Revolution von 1848. Ich mag am liebsten seine melancholischen Eigenkompositionen.
Mit seinen jiddischen Liedern wandelte er auf den Spuren von Theodore Bikel, der als Sänger und Schauspieler eine Weltkarriere machte. Und noch eins verbindet ihn mit dem Emigranten aus Wien: Beide gehörten zu den Initiatoren eines Folkfestivals. Das eine fand von 1959 in Woodstock statt, das andere eben ab 1964 rundum die Ruine der Burg Waldeck im Hunsrück.
„Nur aus dem Zusammenfluss der beiden Ströme, der deutschen Jugendbewegung“ und des „amerikanischen Folksingings ist die neue Stilrichtung, das Phänomen des Waldeck-Festivals zu erklären“, heißt es bei Hein und Oss Kröher. In den 1960er/70er Jahren folgten kommerziell erfolgreiche Festivals und Alben mit angloamerikanischen Künstlern und Liedern. Colin Wilkie und seine Frau Shirley Hart haben ihnen auf der Waldeck den Weg bereitet.
Die größten Stars der amerikanischen Folk Revivals sind hier nicht aufgetreten: Joan Baez und Pete Seeger. Zu erleben waren aber der unglückliche politische Liedermacher Phil Ochs, Odetta (die später gemeinsam mit Harry Belafonte aufgetreten ist) und die Banjo spielende Sängerin Hedy West. Ihr bekanntestes Stück zählt zum frühen Repertoire von Joan Baez.
Das Festival brachte seinem Motto entsprecheend Chansons und Folklore zusammen. Die internationalen Lieder waren nicht das Problem. Aber die deutschen Chansons. Politisch sollten, nein, mussten sie sein, fand ein immer größerer Teil derer, die ins Hunsrück kamen. Die Studentenbewegung hielt ihren Einzug. An der Spitze die Dogmatiker.
Sie wollten lieber diskutieren als zuhören. Degenhardt und Walter Mossmann versuchten Kompromisse, sangen ein paar Lieder. Dann stellten sie ihre Gitarren beiseite. Degenhardt propagierte eine Weile, dass Zwischentöne im Klassenkampf Krampf seien. Jahre später, als er längst der DKP beigetreten war, entdeckte er die Zwischentöne wieder. Doch sein bis heute größter „Hit“ stammt von 1965. Gestorben ist „Karratsch“, wie er unter seinen Freunden hieß, 2011 im Alter von 79 Jahren – unversöhnt mit dem Kapitalismus. Ich hätte ihn gern interviewt. Aber mit mir, einem bürgerlichen Journalisten, mochte er nicht reden.
Walter Mossmann ging einen anderen Weg. Er schloss sich den neuen sozialen Bewegungen an, unterstützte sie mit seinen Flugblattliedern und mit Beiträgen im Rundfunk. Mein Lieblingsstück ist lange nach der Waldeck entstanden und in badischer Mundart gehalten. Es handelt sich um die Umdichtung eines alten Volksliedes. Mossmann war übrigens der einzige westdeutsche Liedermacher, der Gnade vor dem gestrengen Urteil Wolf Biermanns fand. Dennoch ist er heute längst vergessen. Da ich eher Jäger als Sammler bin, konnte ich leider die Ausagbe der „Marburger Blätter“ nicht mehr finden, in der ich ein Gespräch mit ihm veröffentlicht habe.
Der jugendliche Reinhard Mey und der sensible Kabarettist Hanns Dieter Hüsch reagierten hilflos auf die Machtübernahme der Ideologen. Hüsch wurde von der Bühne gebuht. Trotzem: Zu meinen Lieblinsliedern zählt bis heute Meys eskapistisches Lied „Und für mein Mädchen würd ich…“
Auf diese Weise ging das Festival in die Binsen. 1969 war Schluss. Bis heute finden immer wieder Gedenkveranstaltungen statt. Es gibt auch einen Peter-Rohland-Singewettstreit. Aber mehr als klingendes Museum ist bei diesen Bemühungen nicht herausgekommen.
Zum Schluss komme ich noch einmal auf die beiden, ich nenn sie die „Last men standing“ aus der Generation Waldeck zu sprechen. Reinhard Mey und Hannes Wader. Mit knapp über 80 Jahren singen sie noch immer. Des einen „Heute hier, morgen dort“, des anderen „Über den Wolken“ sind tatsächlich so etwas wie neue Volkslieder geworden. Sie sind bei Familienfeiern und Beerdigungen zu hören. Ab und an gesellt sich der unermüdliche Konstantin Wecker zu ihnen. Der kommt aus dem Süden und einer anderen Tradition. Doch das ist eine andere Geschichte…
Wader hat vor einiger Zeit offiziell vom Tourleben Abschied genommen. Mey nimmt immer noch Alben auf. Und immer wieder treten sie gemeinsam auf. Bei „Le temps des cerises“ arbeiten sie mit der Harfenistin Ulla van Daelen zusammen. Das Stück stammt aus der Zeit der Pariser Commune und wurde auch von Wolf Biermann aufgenommen. So schließt sich der Kreis dann auch gesamtdeutsch.
Der dritte im Bunde der Überlebenden der Waldeck ist sogar noch zehn Jahre älter als Mey und Wader: Dieter Süverkrüp. Er hat in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag gefeiert. Doch als Liedermacher ist der große Sprach- und Gitarrenvirtuose seit Jahren verstummt. Die Produktion eigener Texte hat er gleich nach dem Bankrott der DDR eingestellt. Danach veröffentlichte er nur noch einige Aufnahmen von Texten des Anarchisten Erich Mühsam. Eine Art künstlerische Buße für sein politisches Leben.
Süverkrüp war schon Kommunist (in der damals illegalen KPD), als Franz Josef Degenhardt noch poetisch-versponnene Chansons schrieb. Jetzt malt der einst erfolgreiche Werbegrafiker wieder. Surealische Bilder. Die Politik hat er hinter sich gelassen. Aber auch von ihm ist etwas Volkstümliches übrig geblieben: Ein antikapitalistisches Kinderlied, angesichts des heutigen Wohnungsmarktes von erstaunlicher Aktualität.
Dies Bild begleitet mich seit fast einem halben Jahrhundert. Ich habs auf der großen USA-Reise gekauft, die ich mit Uta gemacht habe, meiner ersten Frau. Die Galerie, die auf dem Poster angegeben ist, gibt’s schon lange nicht mehr. Ob wir es dort gefunden haben? Gut möglich. Denn in Colorado sind wir gewesen.
Veloy Vigil wurde 1931 während der großen Depression in Denver geboren. Gestorben ist er 1997. Seine Eltern arbeiteten auf den Zuckerrübern-Feldern von Colorado. Zum ersten Mal sei er in der katholischen Kirche mit Kunst in Berührung gekommen, berichtete der Maler einmal. Sein Interesse wurde dann so richtig auf der Highschool geweckt. Nachdem er im Marine Corps gedient hatte, konnte er mit dessen Unterstützung zwei verschiedene Kunst(hoch)schulen besuchen. Er zählte zu den Millionen unterprivilegierter Amerikaner, die von der Politik Franklin D. Roosevelts profitierten.
In Eingang zu unserem Flur korrespondiert das Poster mit einem Druck von Georia O` Keeffe: „Deers Skull with Pedermal“. Die Farbgebung ist verwandt. Viele kennen vor allem die Blumen-Motive der Malerin. Ich mag eher die Bilder, in denen sie der Landschaft des amerikanischen Südwestens ein Denkmal gesetzt hat. Oder ihre weniger bekannten Großstadt-Impressionen.
Wie das Bild von Veloy Vigil heißt, weiß ich nicht. Hab es auch im Netz nicht gefunden. Ich find faszinierend, wie er von der Wiese, ich sag mal: Prairie, bis zum Himmel mit verschiedenen Farbtönen von Blau bis Lila spielt. Und mittendrin von höchster Dynamik: Der blaue Reiter auf einem weißen Pferd. Soviel Bewegung in einem an sich ja statischen Bild hab ich selten gesehen. Vielleicht liegt es daran, dass er zu Musik malte. Ich weiß allerdings nicht, zu welcher Art.
Meist hat Veloy Vigil mit Acryl auf Leinwand gearbeitet. Seine Motive entstammen dem Leben des Volkes einer Herkunft, der Pueblo Indianer. Heute sagen wir: Der Indigenen. Fast immer sind sie bunter als das vorliegende Bild. So weit wie hier hat er sich nur selten in den Bereich der Abstraktion gewagt.
Ich hab mich auch über die Jahrzehnte hin nicht an diesem Bild satt sehen können und freue mich jedes Mal daran, wenn ich unsere Wohnung betrete…
Marburg – zwei Stunden Fahrt von dem kleinen blühenden Paradies im Werra-Tal, wo wir uns gelegentlich vom Berliner Großstadt-Gewusel erholen. Sieben Jahre hab ich dort gelebt. Mehr als 40 Jahre bin ich nicht mehr da gewesen. Neulich hatte ich Zeit und Lust zu einer Stippvisite.
Zwei Gründe hatten im Mitttelpunkt der Erwägungen für die Wahl meines Studienorts gestanden: Mindestens 300 Kilometer weit weg von zuhause sollte er sein. Zweitens wollte ich Wolfgang Abendroth erleben, den „Partisanenprofessor im Land der Mitläufer“, wie Jürgen Habermas ihn genannt hat.
Zu dem ist seinerzeit auch der junge Philosoph geflohen. Max Horkheimer, dem Guru der Frankfurter Schule, schien er zu links. Damals. Also nahm Abendroth seinen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ als Habilitationsschrift an. Aber das ist eine andere Geschichte…
In meinen ersten beiden Semestern hat der alte Herr noch Vorlesungen gehalten. Meist im größten verfügbaren Hörsaal. Im Audimax. An die klare leicht schneidende Stimme kann ich mich noch erinnern. Und daran, dass er manuskriptlos frei gesprochen hat. Lange verschachtelte Sätze, die er zum Erstaunen seiner Zuhörerschaft stets korrekt zu Ende brachte.
Worum es ging? Irgendwas mit Arbeiterbewegung, in der Regel. Seine knappe „Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung“ und der schmale Band mit seiner linken Interpretation des Grundgesetzes haben bis heute Ehrenplätze in meinem abgespeckten Bücherregal.
Den Ruf als „rotes Marburg“ hat die kleine Universitätsstadt an der Lahn aber weniger wegen des großherzigen alten Mannes erhalten, sondern wegen der politisch zielstrebigsten unter denen, die sich auf ihn beriefen. Die orthodoxen Kommunisten der DKP und ihrer Studentenorganisation MSB Spartakus machten sich Teile der Uni Untertan. Politikwissenschaft vor allem und Soziologie. Von hier aus schaffte es die Partei auch in den Stadtrat. Wolfgang Abendroth blieb, was er war: Ein aufrechter linker Sozialdemokrat. Aber er ließ sie gewähren.
„Geisteswissenschaftliche Institute“ steht über dem Eingang des weitläufigen Flachbaus zu lesen, der die metall verkleideten Bürotürme im Lahntal verbindet. Wir haben damals dafür gekämpft, dass dies der „Fachbereich Gesellschaftswissenschaften“ wurde. Da waren die Mehrheiten von Studentenschaft und Lehrkörper einig.
In einer feierliche Zeremonie wurde die Philosophische Fakultät zu Grabe getragen. Ihre Dekanin Ingeborg Weber-Kellermann (Volkskundlerin, gleichwohl nicht rechts), eine quirlige kleine Frau, wie Abendroth aus der DDR geflohen, hielt im vollen Ornat eine feierliche Abschiedsrede, für die sie den berühmten Faust-Monolog satirisch umgedichtet hatte: „Habe nun ach, Philosophie…“
Heute ist längst Gras über diese Geschichte und ihre Geschichtchen gewachsen. Müll liegt in der Unterführung, die unter einer Schnellstraße zu den Räumen führt, wo ich einmal studiert habe. Auf der Treppe wuchert Unkraut. Dennoch, dies ist eine lebendige Universität. Ein „lost Place“ höchstens meine linke politische Vergangenheit.
An Wolfgang Abendroth erinnert heute in Marburg eine Brücke für Fußgänger und Radfahrer, die von der unteren Innenstadt zu seiner alten Wirkungsstädte führt. Nicht viel, aber immerhin. Ein zentraler Platz in der Stadt heißt nach einem aus der ersten Generation seiner Doktoranten. Hanno Drechsler ist schon früh in die Politik gewechselt, Oberbürgermeister geworden und es 22 prägende Jahre geblieben.
Bei einem anderen, der später wohl Abendroths Lieblingsschüler war, habe ich mein Staatsexamen abgelegt. Frank Deppe hielt jedenfalls 1985 die Trauerrede zu Wolfgang Abendroths Beerdigung in Frankfurt. Für seine Berufung gab es zu Beginn der 1970er Jahre die erste große politische Kampagne, an der ich mich beteiligt habe: „Deppe auf H 4!“.
Bekommen hat er die Stelle aber wohl weniger wegen unseres damals viel beschworenen Kampfes, als wegen eines Kuhhandels im Tausch gegen die Berufung mehrerer nicht so linker Wissenschaftler. Nach seiner Emeritierung wurde die Stelle nicht mehr besetzt. Frank Deppe lebt bis heute in Marburg. Er ist in der Linkspartei aktiv und schreibt Bücher aus sozialistischer Perspektive.
Der seinerzeit bekannteste „Marburger Schüler“ war Reinhard Kühnl. Die Auseinandersetung um seine Berufung war gerade abgeschlossen, als ich an die Uni kam. Einer der schärfsten Kritiker war Ernst Nolte gewesen, um dessen Thesen es in den 1980r Jahren den großen Historikerstreit gab, als er den Faschismus als Anwort auf den Kommunismus interpretierte.
„Zu links“ lautete sein Verdikt. Außerdem wurde moniert, dass er sich nicht mit einer großen Schrift, sondern mit mehreren kleinern Arbeiten „kumulativ“ habilitiert hatte. Abendroth musste seine ganze Energie aufwenden, um die Berufung seines Doktoranten durchzusetzen. Mir war Kühnl persönlich nicht sonderlich sympathisch. Dass er einige Jahre nach seiner Emeritierung an Alzheimer erkrankt ist, hab ich erst im Rahmen der Lektüre für diesen Text mitbekommen.
In den 1970er Jahren war er der einzige Marburger Bestseller-Autor. Er schaffte es sogar in den populären rororo-Verlag. Sein Spitzentitel über „Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus, Faschismus“ hatte eine Gesamtauflage von fast 180 000 Exemplaren. Entsprechend groß war der Andrang der Studenten. Da war es bei Frank Deppe trotz aller persönlichen Beliebtheit erheblich übersichtlicher.
Über die Grenzen der politischen Fraktionen hinaus, in welche die Studentenbewegung schnell zerfallen war, hatte sich damals eingebürgert, ein Thema erst einmal aus dem marxistischen Urschleim „abzuleiten“, ehe man zur Sache kam. Das ließ die Arbeiten oft auf etliche hundert Seiten anschwellen. „Frank“ (das „Du“ war üblich) wehrte sich mit einem Kunstgriff. „Ihr könnte so lang schreiben wir ihr wollt“, beschied er seine ExamenskandidatInnen, „aber sagt mir, welche 120 Seiten ich bewerten soll“.
Meine sentimentale Reise nach Marburg führte mich auch an den Ort, wo ich meine 120 Seiten in eine mechanische „Gabriele“-Schreibmaschine gehackt habe. Das Fenster im ersten Stock eines Gründerzeithauses, hinter dem mein Scheibtisch damals stand, war offen, als ich die Stadt besichtigte. Aber klingeln mochte ich nicht. Meine spätere erste Frau brachte die fertigen Seiten zur Reinschrift zu einer Kommilitonin, die ihr Studium zum Teil mit einer elektrischen Schreibmaschine finanzierte.
Ich hab in jenen Tagen den „Saumagen“ kennen und schätzen gelernt. Ein paar Häuser weg von unserer Wohnung gabs ein kleines Lokal, das von einem schwulen Paar betrieben wurde. Einer der beiden kam aus der Pfalz und brachte ab und an die Wurstspezilität seiner Heimat mit. Ich mochte die angebratenen Scheiben im Darm. Dass ich diese Vorliebe mit einem Bundeskanzler teilte,den ich weniger schätzte, sollte ich erst viel später erfahren. Den Appetit hats mir trotzdem nicht verdorben.
Sieben Jahre hab ich in Marburg gelebt. Aber ernsthaft studiert hab ich die wenigsten davon. Dass mein politisch dominiertes Studentenleben irgendwann ziemlich abrupt zu Ende ging, habe ich übrigens einem Mann zu verdanken, der so gar nichts mit Marburg zu zun hat. Dem ostdeutschen Dichter und Sänger Wolf Biermann.
Ich hab mich früh für politische Lieder interessiert. Zu meinen Favoriten zählte damals sein legendäres Stück „Soldat, Soldat…“ Als die DDR Biermann 1976 während eines überraschend erlaubten Gastspiels in der Bundesrepublik ebenso überraschend ausbürgerte, war ich Bildungsreferent in der Grundeinheit Gesellschafswissenschaften der Marburger DKP. Meine wichtigste Aufgabe: In unseren Sitzungen das wichtgste Ereignis dieser Tage mittels eines „politischen Referats“ einzuordnen. In diesem Fall gings darum, Biermanns Rauswurf zu rechtfertigen.
Den Posten hatte ich weniger meiner politischen Linientreue zu verdanken als meiner Faulheit. Denn die Arbeit war meist schnell getan. War ja klar, wer an den Missständen schuld war, gegen die wir uns wandten. Doch diesmal tat ich mich schwer. Der Versuch, mich mit einem „einerseits – andererseits“ aus der Affäre zu winden, mochte und mochte nicht gelingen. Ja, die Bösen haben den Vorfall ausgeschlachtet. Trotzdem waren jene, die ich gewöhnt war, als die Guten zu betrachten, diesmal die Bösen. Da gab es nichts zu relativieren. Der Umgang mit Wolf Biermann war politisch falsch. Und heimtükisch obendrein. Punkt.
Damit fand eine Entwicklung ihr Ende, die mir schon zuvor immer wieder den Vorhalt eingetragen hatte: „Du stellst die falschen Fragen, Genosse…“ Also hab ich „Gabriele“ mein Austrittsschreiben anvertraut. Ende November 1976 war mein Leben als studentischer Kommunist beendet. Die folgenden gut vier Semester hat es mir saumäßig Spaß gemacht, fast politikfrei einfach nur zu studieren. Fröhliche Wissenschaft! Von meinen bis dato Genossen hab ich mich auch gesellschaftlich schnell entfernt. Innerlich ging mein Blick immer mehr in Richtung meiner Zukunft als „bürgerlicher“ Journalist.
Bevor ich mich in meine Studierstube in einem wohlsituierten Gründerzeitbau an der Lahn zurückzog, hab ich an verschiedenen Stellen der Stadt gewohnt – angefangen 1971 im Vorort Cappel für 90 Mark im Monat. Inclusive einmal wöchentlicher Badbenutzung. Die Vermieterin zählte mit.
Auf meiner letzten Station, ehe ich mit der späteren Mutter meiner Töchter zusammengezogen bin, hab ich im zweitältesten Haus der Stadt gewohnt. Am Schuhmarkt 2. In dem Fachwerkbau gab es keine gerade Wand und keinen ebenen Boden. Mein Vormieter hatte ein Bett passgenau mit vier verschieden langen Beinen gezimmert. Geheizt wurde mittels eines Kohleofens.
Als ich einmal eines späten Winterabends von zuhause nach Marburg kam, hab ich mich mit Mütze und Mantel tief ins Bett gemümmelt. Am nächsten Morgen war mein damals noch etwas längerer Bart bretthart gefroren. Zum Glück gabs schräg gegenüber in der Unterstadt das Hallenbad, wo ich unter einer heißen Dusche auftauen konnte.
Wie nahe mein Quartier an der guten Stube des bürgerlichen Marburg lag, ist mir erst jetzt wieder ins Gedächtnis gekommen. Als Tourist hab ich im Sommer 2024 selbstverständlich das „Cafe Vetter“ aufgesucht. Es liegt am Rande der Oberstadt und eröffnet einen herrlichen Panoramablick auf das Lahntal einschließlich der nun wieder Philosophischen Fakultät.
Im großen Gastraum steht ein schwarzer Flügel. Wie früher. Zu meiner Zeit in den 1970er Jahren erklang darauf Sonntag nachmittags Kaffeehausmusik. Der Pianoman neigte jedoch dazu, sich seinen Job schön zu trinken. Weinbrand um Weinbrand wurde er lauter… bis man ihn durch einen alkohofreien Wunderknaben ersetzte, der bei „Jugend musiziert“ reüssiert hatte.
Bei unserem Besuch 2024 wäre mir auch der lauteste Anschlag egal gewesen. Ich brauchte Erholung. Für einen alten weißen Mann mit Parkinson-bedingter Gangstörung ist die Marburger Oberstadt eine mindestens so arge Herausforderung wie einst für die jungen Frauen mit den plateaubesohlten Schuhen, die in meiner studentischen Jugend angesagt waren. Ohne den stützenden Arm meiner Liebsten wäre ich womöglich über die Katzenbuckel des Kopfsteinpflasters gepurzelt – wie die Gedanken in meinem erinnerungstrunkenen Hirn…
Zu den Quartieren, die in Berlin eine Zeit lang meine Heimat waren, zählt eine große Wohnung im 4. Stock eines Wilmersdorfer Altbaus. Das helle Wohnzimmer mit riesigem Fenster beherbergte nach dem 2. Weltkrieg ein Künstleratelier. Hier lebte und arbeitete die Malerin und Grafikerin Gerda Rothermund (1). Ein paar Häuser weiter recht in der Güntzelstraße residierte ihr erheblich bekannterer Kollege Johannes Grützke (2), dem ich gelegentlich begegnet bin, wenn er beim Bäcker in unserem Haus sein Frühstück einnahm.
Das große, helle Wohnzimmer vorn und die kleine Küche im hinteren Teil der Wohnung trennte ein mehr als 18 Meter langer Flur. Paradiesisch, wenn man viel Platz für Bücherregale und Bilder braucht. Einerseits. Für die von uns geschätzte Geselligkeit mit Gästen beim Essen nicht so praktisch. Von einem großen Teil meinet Büchern habe ich mich einen Umzug später getrennt, als wir in eine erheblich kleinere, aber vor Mietüberraschungen sichere Genossenschaftswohnung zogen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Von den Bildern, meist Reproduktionen, verschwanden die meisten im (zum Glück trockenen) Keller unseres Neubaus. Ab und an hole ich eins hervor, zwecks Wechselausstellung. Jetzt war es wieder einmal so weit. Es handelt sich um das Plakat zu einer großen Ausstellung mit Kunst aus der DDR, die 2003 in der Berliner Nationalsgalerie gezeigt wurde. Das Bild stammt von Sibylle Bergemann, an deren Wohnung am Schiffbauerdamm mich mein Arbeitsweg mit der S-Bahn einige Jahre lang vorbeiführte, ohne dass ich ihr je begegnet wäre.
Die Fotografin (1941 – 2010) war eine der Gründerinnen der legendären Agentur Ostkreuz und zählt zu den wichtigsten Fotokünstlern nicht nur des anderen Deutschland. Sie arbeitete in der DDR unter anderem für die Zeitschriften DAS MAGAZIN und SONNTAG, vor allem aber als freie Fotografin. Meist zeigen ihre Bilder lebende Menschen – Manequins, die Mode vorführen oder die Besucher von CLÄRCHENS BALLHAUS in Berlin.
Das Bild der beiden halben Revolutionäre stammt aus einem Langzeitprojekt. Im Auftrag des Kulturministeriums der DDR dokumentierte Bergemann von 1975 bis 1986 die Entstehung des Berliner MARX/ENGELS-DENKMALS von Ludwig Engelhard – beginnend mit der Sichtung der verwendeten Steine. Das Motiv stammt aus der Phase der Aufstellung. Da das Plakat auf eine Ausstellung von Kunst in der untergegangenen DDR hinweist, habe ich lange gedacht, es zeige den Abbau der beiden steinernen Gäste.
Erst als ich den auch sonst empfehlenswerten Band OSTZEIT mit Bildern von sieben Ostkreuz-Mitgliedern von 2009 in die Hände bekam, wurde ich eines Besseren belehrt. Die Mehrheit der Besucher dürfte nicht klüger gewesen sein als ich. Aus meiner Sicht ist es gerade diese Doppeldeutigkeit, die aus dem Motiv große Kunst macht. Und genau deshalb dürften die Ausstellungsmacher das Foto von Sibylle Bergemann für ihr Plakat ausgewählt haben.
Warum mich eine Baustelle an meine Jugend(sünden) erinnert …
Zufälle gibt’s – die können einen beinahe auf den Gedanken bringen, dass es keine Zufälle gibt. Seit einiger Zeit wird die letzte Brache in unserer Gegend bebaut. Auf dem attraktiven Eckgrundstück nebenan entstehen… nein, eben keine teuren Eigentumswohnungen, wie meist in den Berliner Neubauten, sondern Apartments für rund 100 Auszubildende zu erschwinglichen Mieten. Bauherr ist das Kolping-Werk.
In der eher gottlosen (oder protestantisch oder muslimisch geprägten) Stadt Berlin dürften nicht viele Menschen etwas mit dem Namen anfangen können. Adolph Kolping war eine wichtige Persönlichkeit der katholischen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts. Er kümmerte sich vor allem um die jungen Gesellen auf Wanderschaft. Beerdigt ist er in Köln, wo ich lange gelebt habe und er die meiste Zeit seines Lebens gewirkt hat.
Auf den Namen bin ich allerdings in meiner Jugend in Moers gestoßen. Die Stadt liegt an jenem kleinen Teil des Niederrheins, der für Katholiken fast so sehr Diaspora ist wie Berlin. Dort stand der Vater meiner ersten Freundin (nach der Tanzstunde) der örtlichen Kolping-Familie vor. Von mir hielt er eher wenig. Zunächst jedenfalls.
Denn die erste publizistische Großtat meines Lebens war es, einen lokalen Skandal auszulösen. Ich verantwortete drei Ausgaben des „Scheinwerfer“, der Schülerzeitung des ehrwürdigen humanistischen Gymnasiums Adolfinum. Zur ersten hat mich unser Direktor noch beglückwünscht, die zweite kostete mich eine zweistündige Diskussion mit ihm. Den Vertrieb der dritten auf dem Schulgelände hat er verboten. Das war 1969.
So kam ich ins Visier des Kolping-Vaters. Denn der Eklat war der „Rheinischen Post“, der konservativen unter den damals noch drei (!) Zeitungen unsrer Stadt, einen Aufmacher im Lokalteil wert. Wir hatten provozieren wollen. Und das ist uns gelungen. Wie? Das haben wir postpubertären Schülerschreiber den Medien der Erwachsenen abgeschaut: „Sex sells“. Also musste Nacktheit auf die Titelseite.
Da es sich beim „Adolfinum“ um ein Jungenymnasium handelte, konnten wir mit baren Busen aus eigenen Beständen nicht aufwarten. In No. 2 unserer Postille hatten wir uns mit der Teilansicht eines prall aufgeblasenen Luftballons geholfen. Die Lehrer interpretierten ihn, wie sie sollten. Diesen Erfolg galt es nun zu toppen. Deshalb musste einer von uns her- oder besser gesagt hinhalten: seinen Hintern. An die heutzutage üblichen „Dickpics“ war damals nicht zu denken. Da wir bei aller Provokationslust doch eher g’schamig waren, wollte der Fotoamateur unter uns seine entblößte Kehrseite per Selbstauslöser ablichten.
Von diesem Plan erzählte ich einem ehemaligen Schulbanknachbarn, den eine frühere Missetat vom Gymnasium in eine Fotografenausbildung katapultiert hatte. „Quatsch“, sagte der spätere Reporter einer großen Illustrieren. So ein „A… ist viel zu schwer auszuleuchten“. Woher er das wusste, hab‘ ich nicht gefragt. Aber da das Atelier seines Lehrherrn wochenendbedingt verwaist war, fand ich mich dort – ehe ich etwas einwenden konnte – als Fotomodell wieder. Seither weiß ich übrigens, warum von einem „Muttermal“ die Rede ist. Die meinige hat mich an einem kleinen Leberfleck erkannt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die „Rheinisch P e s t“, wie wir sagten, war selbstverständlich die Hauspostille des katholischen Vaters der Angebeteten. Also hieß es erst einmal: Kontaktverbot! Was den gestrengen Kolping-Vorsitzenden schließlich milder gestimmt hat? Ich weiß es nicht. Irgendwann landete ich jedenfalls regelmäßig neben ihm auf der Wohnzimmercouch, wenn ich seine Tochter hoch offiziell zum Spaziergang abholte. Wem da Franz Josef Degenhardts böse Kleinstadtsatire „Deutscher Sonntag“ einfällt, der oder die liegt ziemlich richtig.
Der Abholprozess pflegte sich mit der Zeit immer länger hinzuziehen. Denn der Vater meiner Nicht-Braut war ein politisch interessierter Mensch. Er fand Gefallen daran, den missratenen Verehrer seines Nachwuchses in politische Diskussionen zu verwickeln. Ich ließ mich selbstverständlich nicht lumpen, sodass die Liebste begann, über eine Begrenzung meines Kontaktes zu ihrem Erzeuger nachzudenken. Irgendwann ist diese Jugendliebe dann jenen Weg gegangen, den die meisten Jugendlieben gehen.
Ich zog zum Studium einige hundert Kilometer weit weg ins damals noch „rote“ Marburg. Meine Besuche in Moers wurden insgesamt immer seltener. Irgendwann ist meine Mutter gestorben. Seither gab es für mich keinen Grund mehr zu Besuchen am Niederrhein. Es kann allerdings vorkommen, dass ich auch als journalistischer Rentner hin und wieder eine Liedzeile summe, die der bis heute prominenteste Moerser geschrieben hat: Hanns Dieter Hüsch.
Der Kabarettist war ebenfalls ein „Adolfiner“. Aus Anhänglichkeit an seine alte Schule hat er dem „Scheinwerfer“ die Erstveröffentliung eines nostalgischen Heimatliedes geschenkt: „N‘ Abend zusammen, rief man über den Zaun, lief die Wiesen entlang, schwamm in grünlichen Seen… und wurde ein schwarzes Schaf.“
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