Es gibt Sätze, die man nicht so leicht vergisst. Diesen zum Beispiel: „Bücher sind Müll!“ Er ist mir vor einiger Zeit wieder eingefallen, als ich in meinem alten Berliner Kiez herum gestromert bin. „50 Prozent“ und „Wir schließen“ stand da in dicken Lettern auf die Schaufenster der „Bücherhalle“ geklebt. Das war einmal ein riesiges Modernes Antiquariat mit tausenden von Büchern aller größen und Genres.
Als ich noch „umme Ecke“ gewohnt und zur arbeitenden Bevölkerung gezählt habe, bin ich dort regelmäßig auf meinem Weg zur U-Bahn vorbei gekommen. Die Auslagen waren wohl sortiert und wurden immer wieder aktualisiert – wie in einem Geschäft für neue Bücher.
Deshalb habe ich eines Tages hoffungsvoll vor dem Besitzer gestanden. Ich dachte, sein modernes Antiquariat sei der beste Ort, um bei der zwangsweisen Verkleinerung meiner heimischen Bibliothek durch Umzug in eine erheblich kleinere Wohnung wenigstens noch ein paar Euro zu erlösen. Denn bei den einschlägigen Internetportalen gibt’s nach beträchtlichem bürokratischem Aufwand nur ein paar Cent pro Band. Doch der gute Mann enttäuschte mich mit der ernüchternden Lehre: „Bücher sind Müll!“
Einen großen Teil meiner recht stattlichen Bibliothek habe ich dann verschenkt. Schräg gegenüber meiner früheren Wohnung gibt’s bis heute, was ich damals „Sozialbibliothek“ genannt habe. Da kann man seine Bücher in unbegrenzter Zahl hinbringen und pro Tag bis zu drei mitnehmen.
Da war immer etwas los. Das gilt auch für die Telefonzellen, die im Zeitalter des Smartphones ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt sind. Stattdessen kann man hier zensurfrei Bücher hineinstellen oder sie entnehmen. Neulich begegnete ich abends einem jungen Mann, der fast tanzte – so glücklich war er über einen Fund.
Ums in der Begrifflichkeit meiner studentischen Spätjugend zu formulieren: Die Bücher sind hier ihres Warencharakters beraubt. Sie sind keineswegs Müll. Sie haben bloß keinen Tauschwert mehr, der sich monetarisieren ließe. Aus der Sicht des Händlers sind sie daher „Müll“. Einen guten Teil seines Umsatzes hatte er übrigens mit „jungen“ alten Büchern erzielt. Ältere waren stets schwer zu verkaufen. Daher sein resignativer Befund.
Aber die jungen…
Professionelle Rezensenten, die ungefragt zugeschickte Bücher nicht mochten, konnten hier in der Tat einen Erlös erzielen. Und die Kundschaft der Bücherhalle bekam Fast-Neu-Erscheinungen zum halben Preis, sofern die Ware nicht älter war als höchstens ein halbes Jahr. Am besten nur ein viertel. Ab und an hab auch ich hier gekauft.
Ein erheblicher Teil meiner inzwischen reduzierten Bibliothek stammt aus meiner Zeit als Redakteur für die Seite „Das Politische Buch“ beim „Kölner Stadt-Anzeiger“. Damals hab ich fast alle unverlangt zugesandten Bücher noch behalten, auch wenn sie mich nicht interessierten. Aber es war einfach zu schön, wenn Besuch neu in unsere Wohnung kam und mit Blick auf meine Bücherregale ehrfurchtsvoll fragte: „Hast Du die alle gelesen?“ Ich pflegte dann mit lässigem Stolz zu anworten: „Nicht alle. . .“
Heute frage ich mich manchmal, ob ich mich nicht noch von ein paar Exemplaren mehr hätte trennen sollen. Aber Bücher sind halt nicht nur Bildungsgüter und soziale Distinktionsmerkmale, sondern auch Erinnerungsstücke.
Meine zehnbändige Ausgabe der Werke von Heinrich Heine etwa, herausgegegeben in der DDR, hab ich von einer Reise in die damals noch existierende Sowjetunion mitgebracht. Sie stammen aus der deutschsprachigen Buchhandlung in Taschkent. Ich hab ganz schön dran geschleppt. Aber der Preis war halt zu verführerisch.
Was hab ich sonst noch aufbewahrt? Die Gesamtausgabe der Werke von Bertolt Brecht. Na klar. Uta, meine erste Frau und ich besaßen sie zwei Mal – in der grauen Suhrkamp-Version und in der DDR-Ausgabe, die in rotes Leinen gebunden war. Ich behielt die graue. Die Rote war nicht ganz vollständig.
Komplett ist auch die Ausgabe der legendären Zeitschrft „Die Weltbühne“, die lange von Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky redigiert wurde. Nicht weit von einem ihrer Redaktionssitze habe ich einmal gewohnt.
Behalten hab ich obendrein meine Bände der Bibliothek Deutscher Klassiker. Sie wurde im Auftrag des DDR-Kulturministeriums von 1954 an herausgegeben und erschien bis kurz nach der deutschen Einheit in mehr als sieben Millionen Bänden – 74 meist mehrbändige Werkausgaben von Texten, deren Original zwischen 1488 und 1926 erschienen ist. Alls Bände sorgfältig in Leinen gebunden.
Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, anfangs an der Bearbeitung beteiligt, bilanzierte 1991, lange nach seiner Flucht in den Westen, die Edition sei „sensationell gewesen“: „In allen germanistischen Seminaren der Bundesrepublik hat man sich der Weimarer Ausgaben bedient“.
Zu den Werk- oder Gesamtausgaben in meinem Bestand gehören auch Klassiker dessen, was wir gewöhnlich als Trivialliteratur bezeichnen, also die Kriminalromans von Raymond Chandler, Dashil Hammet und Co. – unverkennbar in den schwarz-gelben Ausgaben des Diogenes-Verlages.
Zu den Klassikern zählt für mich auch die Reihe über das 87. Polizeirevier von Ed McBain, der auch unter anderen Pseudonymen veröffentlicht hat. Sie spielen in einer ungenannten Stadt, die aber unschwer als New York zu erkennen ist. Polizeiromane, wie es sie heut nicht mehr gibt. Ich besitze sie leider nicht alle in der gelben Taschenbuchausgabe von Ullstein. Aber inzwischen ist meine Sammlung auch aus anderen Verlagen komplett – eine „Commedia Humana“ in Form von Kriminalromanen.
Der irische hardboiled Autor Ken Bruen, auf den ich jüngst gestoßen bin, schildert einen seiner Protagonisten als Fan des 87. Polizeireviers. Seinen Hund hat er nach einem Polizisten des Reviers genannt: Meyer. Dass der Tausendsassa McBain auch das Drehbuch von Alfred Hitchcocks „Die Vögel“ vefasste, hab ich erst bei der Lektüre für den vorliegenden Text erfahren.
Gehaltvoll, aber schmal, deshalb gut vewahrbar selbt in einer kleinen Wohnung sind die Bände der rororo Bildmonographien, lange Zeit verfasst von renomierten Autoren wie Sebastian Haffner. Überhaupt hab ich vor allem Historische Biografien aufgehoben. Dazu ein paar wenige Darstellungen der Geschichte der Bundesrepublik – etwa von Ralf Dahrendorf und Alfred Grosser. Oder, ebenfalls ein Klassiker, Arnulf Barings Der 17. Juni 1953 oder die Bücher von Günter Gaus. Von ihm schau ich mir ab und zu auch eine seiner legendären Interviewsendungen an, die es zum Glück auf Youtube gibt. Aber das ist eine andere Geschichte…
Halbwegs gut bestückt sind auch meine drei Regalbretter zur Geschichte der populären Musik. Davon konnte ich im Text „Auf den Flügeln des(Protest)gesangs“ für meinen Blog www.kroesflanaden.de zehren. Hier kommt aktuell immer wieder ein wenig Tango hinzu. Denn die Bücher von Michael Lavocah über die Granden des Tango Argentino gibt es nur auf Papier. Ich hab sie als Tangoblogger weidlich ausgeschlachtet. www.kroestango.de ist aktuell nicht mehr erreichbar. Aber ich habe mir vorgenommen, einige Stücke wieder zugänglich zu machen, an denen mir besonders liegt. Das sind keineswegs jene, die seinerzeit die meisten Klicks erzielt haben.
Ansonsten kauf ich höchstens noch (und das eher selten) Kunstbildbände und Kataloge von Ausstellungen, die ich besucht habe. Soviel zu jenem Teil des „Mülls“, von dem ich mich nicht zu trennen vermag. Im übrigen hab ich mich auf e-books verlegt. Die nehmen nicht nur keinen Platz weg. Ich kann ihre Schriftgröße auch passend für meine schwächer gewordenen Augen einstellen.
Wo der ganze „Müll“ des Antiquars mit dem herben Humor gelandet ist? Ich weiß es nicht. Seine ehemaligen Räume stehen seit geraumer Zeit leer – wie so viele Ladenlokale in Berlin.