Ich war auf der Suche nach neuer Lektüre. Ein Krimi sollte es sein. Aber nichts mit den heute handelsüblichen Supergrausamkeiten. Und erst recht ohne Serienkiller. Da stieß ich plötzlich auf ein Wort, das mich elektrisierte: Waldeck. Waldeck? So heißt ein Krimi von Jürgen Heimbach. In der Geschichte gerät eine junge Frau mitten in den Aufbau zu einem neuen Liederfestival. D e m Festival. Der Autor verwendet sogar die ersten Sätze aus der Eröffnungsrede von Diethard Krebs.
2024 jährt sich das Ereignis zum 60. Mal. Den Krimi habe ich dann auch noch gelesen. Aber wichiger war erst einmal, zum Bücherregal zu eilen.
Da stand sie, griffbereit gleich rechts neben den Büchern über Tango: Die Dokumentation über „Die Burg Waldeck Festivals 1964 – 1969“. Ein Textband, dazu zehn CDs mit einem Querschnitt durch die Musik dieser Jahre. Richtig, da war doch auch noch… mit einem weiteren Griff hatte ich das Buch „Rotgraue Raben – vom Volkslied zum Folksong“ von Hein und Oss Kröher zur Hand. Die Zwillingsbrüder aus der Pfalz gehörten zur jugendbewegten Gründergeneration des Festivals. Der Titel spielt auf die Bundesfarben des Nerother Wandervogels an: Rot und Blau. Damit war meine Freizeitbeschäftigung erst einmal gesichert. Der geplante Artikel zu Michael Lavocahs Buch über Osvaldo Fresedo muss warten. Der Streit über die (Über)Alterung der Tangoszene, den die TANGODANZA losgetreten hat, muss ebenfalls ohne mich auskommen. Ich beschäftige mich erst einmal – wie immer höcht subjektiv in meinen Texten – mit der Waldeck und den Folgen.
Ich bin nie in der Ruine im Hunsrück gewesen. Auch die Fahrt oder Wanderung mit Zelt war nie mein Ding. Eine Jurte kenne ich nur aus der Literatur. Aber die Lieder, die auf der Waldeck gesungen wurden, die Künstler, von denen sie stammen, haben mich über die Jahre beschäftigt. Jedenfalls ein Teil von ihnen. Vielleicht sogar geprägt. Meine persönliche Entwicklung ging allerdings anders herum als im Buchtitel der Kröhers: Vom Folksong zum Volkslied.
In seinem Stück „Die alten Lieder“ hat Franz Josef Degenhardt, eine der prägenden Gestalten des Festivals, das Phänomen beschrieben: Menschen anderer Nationen singen ihre eigenen Lieder, nur wir Deutschen nicht die unseren – jedenfalls nicht soweit wir uns für politisch fortschrittlich halten.
Exemplarisch Hannes Wader, noch einer, dessen Kariere auf der Waldeck wenn nicht begonnen, aber doch Fahrt aufgemommen hat. Nach seinen eigenen Texten kam das gemeinsame Musizieren mit den angloamerikanischen „Folkfriends“, dann Lieder der Demokraten von 1848 und Lieder der deutschen Arbeiterbewegung – dann erst unpolitische deutsche Vokslieder. Zu sehr waren sie uns kontaminiert von Nazitradition und deutschen Männerchören. Und Heino…
Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal den wohltönenden Bass von Peter Rohland gehört habe. Eine wunderbare Stimme. Ein total altmodischer Gesangsstil. Schön, dass ich ihn wieder entdeckt habe. A propos entdecken: „Pitter“, wie er bei seinen jugendbewegten Freunden hieß, hat so einiges entdeckt: Landstreicherballaden, die er gemeinsam mit Schobert Schulz aufgenommen hat, Lieder der Revolution von 1848. Ich mag am liebsten seine melancholischen Eigenkompositionen.
Mit seinen jiddischen Liedern wandelte er auf den Spuren von Theodore Bikel, der als Sänger und Schauspieler eine Weltkarriere machte. Und noch eins verbindet ihn mit dem Emigranten aus Wien: Beide gehörten zu den Initiatoren eines Folkfestivals. Das eine fand von 1959 in Woodstock statt, das andere eben ab 1964 rundum die Ruine der Burg Waldeck im Hunsrück.
„Nur aus dem Zusammenfluss der beiden Ströme, der deutschen Jugendbewegung“ und des „amerikanischen Folksingings ist die neue Stilrichtung, das Phänomen des Waldeck-Festivals zu erklären“, heißt es bei Hein und Oss Kröher. In den 1960er/70er Jahren folgten kommerziell erfolgreiche Festivals und Alben mit angloamerikanischen Künstlern und Liedern. Colin Wilkie und seine Frau Shirley Hart haben ihnen auf der Waldeck den Weg bereitet.
Die größten Stars der amerikanischen Folk Revivals sind hier nicht aufgetreten: Joan Baez und Pete Seeger. Zu erleben waren aber der unglückliche politische Liedermacher Phil Ochs, Odetta (die später gemeinsam mit Harry Belafonte aufgetreten ist) und die Banjo spielende Sängerin Hedy West. Ihr bekanntestes Stück zählt zum frühen Repertoire von Joan Baez.
Das Festival brachte seinem Motto entsprecheend Chansons und Folklore zusammen. Die internationalen Lieder waren nicht das Problem. Aber die deutschen Chansons. Politisch sollten, nein, mussten sie sein, fand ein immer größerer Teil derer, die ins Hunsrück kamen. Die Studentenbewegung hielt ihren Einzug. An der Spitze die Dogmatiker.
Sie wollten lieber diskutieren als zuhören. Degenhardt und Walter Mossmann versuchten Kompromisse, sangen ein paar Lieder. Dann stellten sie ihre Gitarren beiseite. Degenhardt propagierte eine Weile, dass Zwischentöne im Klassenkampf Krampf seien. Jahre später, als er längst der DKP beigetreten war, entdeckte er die Zwischentöne wieder. Doch sein bis heute größter „Hit“ stammt von 1965. Gestorben ist „Karratsch“, wie er unter seinen Freunden hieß, 2011 im Alter von 79 Jahren – unversöhnt mit dem Kapitalismus. Ich hätte ihn gern interviewt. Aber mit mir, einem bürgerlichen Journalisten, mochte er nicht reden.
Walter Mossmann ging einen anderen Weg. Er schloss sich den neuen sozialen Bewegungen an, unterstützte sie mit seinen Flugblattliedern und mit Beiträgen im Rundfunk. Mein Lieblingsstück ist lange nach der Waldeck entstanden und in badischer Mundart gehalten. Es handelt sich um die Umdichtung eines alten Volksliedes. Mossmann war übrigens der einzige westdeutsche Liedermacher, der Gnade vor dem gestrengen Urteil Wolf Biermanns fand. Dennoch ist er heute längst vergessen. Da ich eher Jäger als Sammler bin, konnte ich leider die Ausagbe der „Marburger Blätter“ nicht mehr finden, in der ich ein Gespräch mit ihm veröffentlicht habe.
Der jugendliche Reinhard Mey und der sensible Kabarettist Hanns Dieter Hüsch reagierten hilflos auf die Machtübernahme der Ideologen. Hüsch wurde von der Bühne gebuht. Trotzem: Zu meinen Lieblinsliedern zählt bis heute Meys eskapistisches Lied „Und für mein Mädchen würd ich…“
Auf diese Weise ging das Festival in die Binsen. 1969 war Schluss. Bis heute finden immer wieder Gedenkveranstaltungen statt. Es gibt auch einen Peter-Rohland-Singewettstreit. Aber mehr als klingendes Museum ist bei diesen Bemühungen nicht herausgekommen.
Zum Schluss komme ich noch einmal auf die beiden, ich nenn sie die „Last men standing“ aus der Generation Waldeck zu sprechen. Reinhard Mey und Hannes Wader. Mit knapp über 80 Jahren singen sie noch immer. Des einen „Heute hier, morgen dort“, des anderen „Über den Wolken“ sind tatsächlich so etwas wie neue Volkslieder geworden. Sie sind bei Familienfeiern und Beerdigungen zu hören. Ab und an gesellt sich der unermüdliche Konstantin Wecker zu ihnen. Der kommt aus dem Süden und einer anderen Tradition. Doch das ist eine andere Geschichte…
Wader hat vor einiger Zeit offiziell vom Tourleben Abschied genommen. Mey nimmt immer noch Alben auf. Und immer wieder treten sie gemeinsam auf. Bei „Le temps des cerises“ arbeiten sie mit der Harfenistin Ulla van Daelen zusammen. Das Stück stammt aus der Zeit der Pariser Commune und wurde auch von Wolf Biermann aufgenommen. So schließt sich der Kreis dann auch gesamtdeutsch.
Der dritte im Bunde der Überlebenden der Waldeck ist sogar noch zehn Jahre älter als Mey und Wader: Dieter Süverkrüp. Er hat in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag gefeiert. Doch als Liedermacher ist der große Sprach- und Gitarrenvirtuose seit Jahren verstummt. Die Produktion eigener Texte hat er gleich nach dem Bankrott der DDR eingestellt. Danach veröffentlichte er nur noch einige Aufnahmen von Texten des Anarchisten Erich Mühsam. Eine Art künstlerische Buße für sein politisches Leben.
Süverkrüp war schon Kommunist (in der damals illegalen KPD), als Franz Josef Degenhardt noch poetisch-versponnene Chansons schrieb. Jetzt malt der einst erfolgreiche Werbegrafiker wieder. Surealische Bilder. Die Politik hat er hinter sich gelassen. Aber auch von ihm ist etwas Volkstümliches übrig geblieben: Ein antikapitalistisches Kinderlied, angesichts des heutigen Wohnungsmarktes von erstaunlicher Aktualität.