Meine Bilder (5) Sybille Bergemann – Marx und Engels durchgesägt (*)

Zu den Quartieren, die in Berlin eine Zeit lang meine Heimat waren, zählt eine große Wohnung im 4. Stock eines Wilmersdorfer Altbaus. Das helle Wohnzimmer mit riesigem Fenster beherbergte nach dem 2. Weltkrieg ein Künstleratelier. Hier lebte und arbeitete die Malerin und Grafikerin Gerda Rothermund (1). Ein paar Häuser weiter recht in der Güntzelstraße residierte ihr erheblich bekannterer Kollege Johannes Grützke (2), dem ich gelegentlich begegnet bin, wenn er beim Bäcker in unserem Haus sein Frühstück einnahm.

Das große, helle Wohnzimmer vorn und die kleine Küche im hinteren Teil der Wohnung trennte ein mehr als 18 Meter langer Flur. Paradiesisch, wenn man viel Platz für Bücherregale und Bilder braucht. Einerseits. Für die von uns geschätzte Geselligkeit mit Gästen beim Essen nicht so praktisch. Von einem großen Teil meinet Büchern habe ich mich einen Umzug später getrennt, als wir in eine erheblich kleinere, aber vor Mietüberraschungen sichere Genossenschaftswohnung zogen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Von den Bildern, meist Reproduktionen, verschwanden die meisten im (zum Glück trockenen) Keller unseres Neubaus. Ab und an hole ich eins hervor, zwecks Wechselausstellung. Jetzt war es wieder einmal so weit. Es handelt sich um das Plakat zu einer großen Ausstellung mit Kunst aus der DDR, die 2003 in der Berliner Nationalsgalerie gezeigt wurde. Das Bild stammt von Sibylle Bergemann, an deren Wohnung am Schiffbauerdamm mich mein Arbeitsweg mit der S-Bahn einige Jahre lang vorbeiführte, ohne dass ich ihr je begegnet wäre.

Die Fotografin (1941 – 2010) war eine der Gründerinnen der legendären Agentur Ostkreuz und zählt zu den wichtigsten Fotokünstlern nicht nur des anderen Deutschland. Sie arbeitete in der DDR unter anderem für die Zeitschriften DAS MAGAZIN und SONNTAG, vor allem aber als freie Fotografin. Meist zeigen ihre Bilder lebende Menschen – Manequins, die Mode vorführen oder die Besucher von CLÄRCHENS BALLHAUS in Berlin.

Das Bild der beiden halben Revolutionäre stammt aus einem Langzeitprojekt. Im Auftrag des Kulturministeriums der DDR dokumentierte Bergemann von 1975 bis 1986 die Entstehung des Berliner MARX/ENGELS-DENKMALS von Ludwig Engelhard – beginnend mit der Sichtung der verwendeten Steine. Das Motiv stammt aus der Phase der Aufstellung. Da das Plakat auf eine Ausstellung von Kunst in der untergegangenen DDR hinweist, habe ich lange gedacht, es zeige den Abbau der beiden steinernen Gäste.

Erst als ich den auch sonst empfehlenswerten Band OSTZEIT mit Bildern von sieben Ostkreuz-Mitgliedern von 2009 in die Hände bekam, wurde ich eines Besseren belehrt. Die Mehrheit der Besucher dürfte nicht klüger gewesen sein als ich. Aus meiner Sicht ist es gerade diese Doppeldeutigkeit, die aus dem Motiv große Kunst macht. Und genau deshalb dürften die Ausstellungsmacher das Foto von Sibylle Bergemann für ihr Plakat ausgewählt haben.

(*Offiziell hat das Bild keinen Titel)

(1) Gerda Rotermund: fembio.org

(2) Johannes Grützke: Zum Tod des Malers Johannes Grützke – Konservativer Avantgardist. deutschlandfunk.de

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