„Ich hab’ es getragen sieben Jahr…“
Archibald Douglas
Theodor Fontane
Ein Studentenleben wird besichtigt
Marburg – zwei Stunden Fahrt von dem kleinen blühenden Paradies im Werra-Tal, wo wir uns gelegentlich vom Berliner Großstadt-Gewusel erholen. Sieben Jahre hab ich dort gelebt. Mehr als 40 Jahre bin ich nicht mehr da gewesen. Neulich hatte ich Zeit und Lust zu einer Stippvisite.
Zwei Gründe hatten im Mitttelpunkt der Erwägungen für die Wahl meines Studienorts gestanden: Mindestens 300 Kilometer weit weg von zuhause sollte er sein. Zweitens wollte ich Wolfgang Abendroth erleben, den „Partisanenprofessor im Land der Mitläufer“, wie Jürgen Habermas ihn genannt hat.
Zu dem ist seinerzeit auch der junge Philosoph geflohen. Max Horkheimer, dem Guru der Frankfurter Schule, schien er zu links. Damals. Also nahm Abendroth seinen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ als Habilitationsschrift an. Aber das ist eine andere Geschichte…
In meinen ersten beiden Semestern hat der alte Herr noch Vorlesungen gehalten. Meist im größten verfügbaren Hörsaal. Im Audimax. An die klare leicht schneidende Stimme kann ich mich noch erinnern. Und daran, dass er manuskriptlos frei gesprochen hat. Lange verschachtelte Sätze, die er zum Erstaunen seiner Zuhörerschaft stets korrekt zu Ende brachte.
Worum es ging? Irgendwas mit Arbeiterbewegung, in der Regel. Seine knappe „Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung“ und der schmale Band mit seiner linken Interpretation des Grundgesetzes haben bis heute Ehrenplätze in meinem abgespeckten Bücherregal.
Den Ruf als „rotes Marburg“ hat die kleine Universitätsstadt an der Lahn aber weniger wegen des großherzigen alten Mannes erhalten, sondern wegen der politisch zielstrebigsten unter denen, die sich auf ihn beriefen. Die orthodoxen Kommunisten der DKP und ihrer Studentenorganisation MSB Spartakus machten sich Teile der Uni Untertan. Politikwissenschaft vor allem und Soziologie. Von hier aus schaffte es die Partei auch in den Stadtrat. Wolfgang Abendroth blieb, was er war: Ein aufrechter linker Sozialdemokrat. Aber er ließ sie gewähren.
„Geisteswissenschaftliche Institute“ steht über dem Eingang des weitläufigen Flachbaus zu lesen, der die metall verkleideten Bürotürme im Lahntal verbindet. Wir haben damals dafür gekämpft, dass dies der „Fachbereich Gesellschaftswissenschaften“ wurde. Da waren die Mehrheiten von Studentenschaft und Lehrkörper einig.
In einer feierliche Zeremonie wurde die Philosophische Fakultät zu Grabe getragen. Ihre Dekanin Ingeborg Weber-Kellermann (Volkskundlerin, gleichwohl nicht rechts), eine quirlige kleine Frau, wie Abendroth aus der DDR geflohen, hielt im vollen Ornat eine feierliche Abschiedsrede, für die sie den berühmten Faust-Monolog satirisch umgedichtet hatte: „Habe nun ach, Philosophie…“
Heute ist längst Gras über diese Geschichte und ihre Geschichtchen gewachsen. Müll liegt in der Unterführung, die unter einer Schnellstraße zu den Räumen führt, wo ich einmal studiert habe. Auf der Treppe wuchert Unkraut. Dennoch, dies ist eine lebendige Universität. Ein „lost Place“ höchstens meine linke politische Vergangenheit.
An Wolfgang Abendroth erinnert heute in Marburg eine Brücke für Fußgänger und Radfahrer, die von der unteren Innenstadt zu seiner alten Wirkungsstädte führt. Nicht viel, aber immerhin. Ein zentraler Platz in der Stadt heißt nach einem aus der ersten Generation seiner Doktoranten. Hanno Drechsler ist schon früh in die Politik gewechselt, Oberbürgermeister geworden und es 22 prägende Jahre geblieben.
Bei einem anderen, der später wohl Abendroths Lieblingsschüler war, habe ich mein Staatsexamen abgelegt. Frank Deppe hielt jedenfalls 1985 die Trauerrede zu Wolfgang Abendroths Beerdigung in Frankfurt. Für seine Berufung gab es zu Beginn der 1970er Jahre die erste große politische Kampagne, an der ich mich beteiligt habe: „Deppe auf H 4!“.
Bekommen hat er die Stelle aber wohl weniger wegen unseres damals viel beschworenen Kampfes, als wegen eines Kuhhandels im Tausch gegen die Berufung mehrerer nicht so linker Wissenschaftler. Nach seiner Emeritierung wurde die Stelle nicht mehr besetzt. Frank Deppe lebt bis heute in Marburg. Er ist in der Linkspartei aktiv und schreibt Bücher aus sozialistischer Perspektive.
Der seinerzeit bekannteste „Marburger Schüler“ war Reinhard Kühnl. Die Auseinandersetung um seine Berufung war gerade abgeschlossen, als ich an die Uni kam. Einer der schärfsten Kritiker war Ernst Nolte gewesen, um dessen Thesen es in den 1980r Jahren den großen Historikerstreit gab, als er den Faschismus als Anwort auf den Kommunismus interpretierte.
„Zu links“ lautete sein Verdikt. Außerdem wurde moniert, dass er sich nicht mit einer großen Schrift, sondern mit mehreren kleinern Arbeiten „kumulativ“ habilitiert hatte. Abendroth musste seine ganze Energie aufwenden, um die Berufung seines Doktoranten durchzusetzen. Mir war Kühnl persönlich nicht sonderlich sympathisch. Dass er einige Jahre nach seiner Emeritierung an Alzheimer erkrankt ist, hab ich erst im Rahmen der Lektüre für diesen Text mitbekommen.
In den 1970er Jahren war er der einzige Marburger Bestseller-Autor. Er schaffte es sogar in den populären rororo-Verlag. Sein Spitzentitel über „Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus, Faschismus“ hatte eine Gesamtauflage von fast 180 000 Exemplaren. Entsprechend groß war der Andrang der Studenten. Da war es bei Frank Deppe trotz aller persönlichen Beliebtheit erheblich übersichtlicher.
Über die Grenzen der politischen Fraktionen hinaus, in welche die Studentenbewegung schnell zerfallen war, hatte sich damals eingebürgert, ein Thema erst einmal aus dem marxistischen Urschleim „abzuleiten“, ehe man zur Sache kam. Das ließ die Arbeiten oft auf etliche hundert Seiten anschwellen. „Frank“ (das „Du“ war üblich) wehrte sich mit einem Kunstgriff. „Ihr könnte so lang schreiben wir ihr wollt“, beschied er seine ExamenskandidatInnen, „aber sagt mir, welche 120 Seiten ich bewerten soll“.
Meine sentimentale Reise nach Marburg führte mich auch an den Ort, wo ich meine 120 Seiten in eine mechanische „Gabriele“-Schreibmaschine gehackt habe. Das Fenster im ersten Stock eines Gründerzeithauses, hinter dem mein Scheibtisch damals stand, war offen, als ich die Stadt besichtigte. Aber klingeln mochte ich nicht. Meine spätere erste Frau brachte die fertigen Seiten zur Reinschrift zu einer Kommilitonin, die ihr Studium zum Teil mit einer elektrischen Schreibmaschine finanzierte.
Ich hab in jenen Tagen den „Saumagen“ kennen und schätzen gelernt. Ein paar Häuser weg von unserer Wohnung gabs ein kleines Lokal, das von einem schwulen Paar betrieben wurde. Einer der beiden kam aus der Pfalz und brachte ab und an die Wurstspezilität seiner Heimat mit. Ich mochte die angebratenen Scheiben im Darm. Dass ich diese Vorliebe mit einem Bundeskanzler teilte,den ich weniger schätzte, sollte ich erst viel später erfahren. Den Appetit hats mir trotzdem nicht verdorben.
Sieben Jahre hab ich in Marburg gelebt. Aber ernsthaft studiert hab ich die wenigsten davon. Dass mein politisch dominiertes Studentenleben irgendwann ziemlich abrupt zu Ende ging, habe ich übrigens einem Mann zu verdanken, der so gar nichts mit Marburg zu zun hat. Dem ostdeutschen Dichter und Sänger Wolf Biermann.
Ich hab mich früh für politische Lieder interessiert. Zu meinen Favoriten zählte damals sein legendäres Stück „Soldat, Soldat…“ Als die DDR Biermann 1976 während eines überraschend erlaubten Gastspiels in der Bundesrepublik ebenso überraschend ausbürgerte, war ich Bildungsreferent in der Grundeinheit Gesellschafswissenschaften der Marburger DKP. Meine wichtigste Aufgabe: In unseren Sitzungen das wichtgste Ereignis dieser Tage mittels eines „politischen Referats“ einzuordnen. In diesem Fall gings darum, Biermanns Rauswurf zu rechtfertigen.
Den Posten hatte ich weniger meiner politischen Linientreue zu verdanken als meiner Faulheit. Denn die Arbeit war meist schnell getan. War ja klar, wer an den Missständen schuld war, gegen die wir uns wandten. Doch diesmal tat ich mich schwer. Der Versuch, mich mit einem „einerseits – andererseits“ aus der Affäre zu winden, mochte und mochte nicht gelingen. Ja, die Bösen haben den Vorfall ausgeschlachtet. Trotzdem waren jene, die ich gewöhnt war, als die Guten zu betrachten, diesmal die Bösen. Da gab es nichts zu relativieren. Der Umgang mit Wolf Biermann war politisch falsch. Und heimtükisch obendrein. Punkt.
Damit fand eine Entwicklung ihr Ende, die mir schon zuvor immer wieder den Vorhalt eingetragen hatte: „Du stellst die falschen Fragen, Genosse…“ Also hab ich „Gabriele“ mein Austrittsschreiben anvertraut. Ende November 1976 war mein Leben als studentischer Kommunist beendet. Die folgenden gut vier Semester hat es mir saumäßig Spaß gemacht, fast politikfrei einfach nur zu studieren. Fröhliche Wissenschaft! Von meinen bis dato Genossen hab ich mich auch gesellschaftlich schnell entfernt. Innerlich ging mein Blick immer mehr in Richtung meiner Zukunft als „bürgerlicher“ Journalist.
Bevor ich mich in meine Studierstube in einem wohlsituierten Gründerzeitbau an der Lahn zurückzog, hab ich an verschiedenen Stellen der Stadt gewohnt – angefangen 1971 im Vorort Cappel für 90 Mark im Monat. Inclusive einmal wöchentlicher Badbenutzung. Die Vermieterin zählte mit.
Auf meiner letzten Station, ehe ich mit der späteren Mutter meiner Töchter zusammengezogen bin, hab ich im zweitältesten Haus der Stadt gewohnt. Am Schuhmarkt 2. In dem Fachwerkbau gab es keine gerade Wand und keinen ebenen Boden. Mein Vormieter hatte ein Bett passgenau mit vier verschieden langen Beinen gezimmert. Geheizt wurde mittels eines Kohleofens.
Als ich einmal eines späten Winterabends von zuhause nach Marburg kam, hab ich mich mit Mütze und Mantel tief ins Bett gemümmelt. Am nächsten Morgen war mein damals noch etwas längerer Bart bretthart gefroren. Zum Glück gabs schräg gegenüber in der Unterstadt das Hallenbad, wo ich unter einer heißen Dusche auftauen konnte.
Wie nahe mein Quartier an der guten Stube des bürgerlichen Marburg lag, ist mir erst jetzt wieder ins Gedächtnis gekommen. Als Tourist hab ich im Sommer 2024 selbstverständlich das „Cafe Vetter“ aufgesucht. Es liegt am Rande der Oberstadt und eröffnet einen herrlichen Panoramablick auf das Lahntal einschließlich der nun wieder Philosophischen Fakultät.
Im großen Gastraum steht ein schwarzer Flügel. Wie früher. Zu meiner Zeit in den 1970er Jahren erklang darauf Sonntag nachmittags Kaffeehausmusik. Der Pianoman neigte jedoch dazu, sich seinen Job schön zu trinken. Weinbrand um Weinbrand wurde er lauter… bis man ihn durch einen alkohofreien Wunderknaben ersetzte, der bei „Jugend musiziert“ reüssiert hatte.
Bei unserem Besuch 2024 wäre mir auch der lauteste Anschlag egal gewesen. Ich brauchte Erholung. Für einen alten weißen Mann mit Parkinson-bedingter Gangstörung ist die Marburger Oberstadt eine mindestens so arge Herausforderung wie einst für die jungen Frauen mit den plateaubesohlten Schuhen, die in meiner studentischen Jugend angesagt waren. Ohne den stützenden Arm meiner Liebsten wäre ich womöglich über die Katzenbuckel des Kopfsteinpflasters gepurzelt – wie die Gedanken in meinem erinnerungstrunkenen Hirn…
Erinnerungslücke: War ich im November 1976 „dein Vorsitzender“?
Danke Thomas. Jetzt purzeln mir meine Erinnerungen an Marburg, Mäppchen Meyer und vieles andere in die Birne. Tut aber gut und hilft ein wenig Trost über die derzeit für mich politisch sehr schwierigen Zeiten hinweg zu denken. Wie Abendroth immer sagte, das Wichtigste ist die Beschäftigung mit der Geschichte. So kannst du das Gewordensein der Gegenwart verstehen und damit auch ihre Veränderbarkeit ✊🏾🌻
Die rote Kappe zur roten Vergangenheit. Viel Lokalkolorit und Zeitgeschehen. Ein wenig zu sehr vom abgeklärten Ende her geschrieben, für meinen höchst persönlichen Geschmack.