Obwohl der neueste Text in diesem Blog ebenfalls von Bildern handelt, will ich an meinem Grundsatz festhalten, regelmäßig Bilder vorzustellen, die mich umgeben. Das bietet sich in diesem Fall auch deshalb an, weil das Objekt meiner Wahl in scharfem Kontrast zu den Werken Jürgen Kühnes steht. Ich habe den Druck vor Jahren aus den USA mitgebracht.
Das Bild heißt „Dempsey and Firpo“. Der Maler George Bellows (1882 – 1925) zeigt eine Szene aus der ersten Runde des Boxkampfes um die Weltmeisterschaft im Schwergewicht zwischen dem US-amerikanischen Titelträger Jack Dempsey und seinem argentinischen Herausforderer Luis Firpo vom 14. September 1923. Nach einem wuchtigen Schwinger Firpos verlor Dempsey das Gleichgewicht und stürzte durch die Seile – mitten auf die Tische der Reporter am Ring. Deshalb hieß das Bild zunächst auch „Dempsey trough the Ropes“.
Mit der regelwidrigen Hilfe von Journalisten gelang es dem Champ jedoch, nach 14 Sekunden zurück in das Kampfquadrat zu klettern. In der folgenden Runde schlug er Firpo Ko. Insgesamt dauerte die wilde Prügelei nur gut vier Minuten – mit zwölf Niederschlägen. Zwei davon für Dempsey. Firpo war in der ersten Runde bereits sechs Mal eingeknickt, als er seinen historischen Treffer landete. George Bellows hat ihn unsterblich gemacht. Immer wieder taucht sein Bild in Film, Fernsehen und Literatur auf. Noch Jahrzehnte später ist es nicht nur in einer Szene von Martin Scorceses berühmten Mafia-Drama „Godfellas“ zu sehen, sondern auch in einer Episode der Trickfilmserie „Die Simpsons“.
Wer mag, kann sich nun einen Film anschauen, der die Ring- Schlacht zeigt – einschließlich zweier Zeitlupen. Genaue Beobachter werden einen wichtigen Unterschied zwischen Bild und Realität bemerken: Im Film trifft Firpo mit der Rechten. Der Maler zeigt einen Schwung der linken Hand. Es gibt Kritiker, die behaupten, George Bellows habe den Kampf gar nicht gesehen. Große Kunst bleibt sein Werk trotzdem.
PS 1: Freunde des argentinischen Tango könnten beim Namen „Firpo“ stutzig geworden sein. Doch der Boxer Luis Firpo war mit dem berühmten Orchesterleiter Roberto Firpo, dem wir das klassische Arrangement von „La Cumparsita“ verdanken, weder verwandt noch verschwägert. Der trainingsfaule Faustkämpfer hatte mit dem Tango nur insofern zu tun, als er zu einer Clique wohlhabender junger Männer gehörte, die eine Zeit lang mit Carlos Gardel nächtens um die Häuser zogen.
PS 2: Links unten an den Bildrand hat der Maler sich selbst unter die Reporter gesetzt.
„Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen“, beginnt Franz Hessels berühmtes Buch „Spazieren in Berlin“. „Man wird überspült von der Eile der andern, es ist ein Bad in der Brandung.“ Doch schon Ende der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als Gehsteige noch Fußgängern vorbehalten und elektrische Roller nicht erfunden waren, klagt er, seine „lieben Berliner Mitbürger“, machten ihm die gemächliche, ziellose Fortbewegung nicht so leicht. „Hierzulande muss man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin.“
Jürgen Kühne kennt das Problem. Auch er stört immer wieder den Fluss der Eilenden um ihn herum, wenn er eine Stadt gehend sich erschließt. Ein wandelndes Hindernis. Er hat Paris, Buenos Aires und Madrid be
reist, in London und New York gelebt. Er liebt Städte. Fremde, aber auch die eigene. Die meiste Zeit des Jahres lebt er in Berlin, wo er bis zu seiner Pensionierung Professor für Metallkunde war – wenn es ihn nicht gerade in seinen Heimathafen nach Rostock zieht, wo er studiert und gearbeitet hat.
Er wolle „den Ersten Blick“ auch auf die Stadt, in der er lebe, „gewinnen oder wiederfinden…“, hat Franz Hessel einst geschrieben – der „Erste“ mit einem großem „E“. Der erste Blick auch beim wiederholten Hinschauen? Die verrätselte Formulierung bezeichnet den Versuch des flanierenden Schriftstellers, seine Unbefangenheit zu bewahren, auch oder gerade, wenn eine Umgebung ihm bereits vertraut ist. Der erste Blick des Malers ist erst recht keine einfache oder gar naive Angelegenheit. Er setzt sich aus wiederholten Anschauungen zusammen. Der Künstler schlüpft in die Rolle seines Publikums, dem er versucht, seine Wirklichkeit auf neue Weise nahe zu bringen. In diesem Sinn tritt er seinen Gegenständen im Wege einer reflektierten Naivität gegenüber. Vorstudien, Skizzen auf Papier oder Leinwand sind Jürgen Kühnes Sache nicht. Er umkreist seine Motive, bis er eine Perspektive gefunden hat, die ihm passend erscheint. Dann beginnt er zu malen.
Jürgen Kühne ist Autodidakt. Er hat nie eine Kunstakademie besucht oder auch nur einen Malkurs. Aber frühzeitig hat er „gekritzelt“, wie er es nennt. So hat er in der Schulpause die Kirche auf die Tafel gezeichnet, die er aus dem Klassenfenster sehen konnte. Auch seine Mutter stand ihm früh „Modell“. Zielgerichtet zu Malen hat er nach seinen Worten erst vor etwa 25 Jahren begonnen. Aber seitdem hat es ihn nicht mehr losgelassen. Er malt in kräftigen Farben mit schnellen Strichen und einem eher breiten Pinsel. Aquarell ist ihm zu matt. Ölfarben zu aufwändig. Der flüssige Acrylkunststoff trocknet schnell. Das kommt, wie er sagt, seiner Ungeduld entgegen. Wenn ihm etwas nicht gelungen erscheint, wird’s halt übermalt. Schnell hat er sein Standardformat gefunden: 80×80 cm oder 100×100 cm. Durch dieses „Nadelöhr“ muss die Realität, soll sie auf seine Leinwand passen. Schon das Format verändert die Welt, versetzt im Zweifelsfall Straßenschilder, Bäume, verzerrt gar Gebäude.
Jürgen Kühne malt meist gegenständlich. Ist das Naturalismus, Realismus? Auf jeden Fall ist es die Welt, wie er sie sieht und wie er ihr mit seiner Phantasie und seinem Pinsel eine eigene Gestalt gibt. In einem zentralen Punkt übrigens unterscheidet sich der malende Flaneur Jürgen Kühne von dem schreibenden. Franz Hessel ließ das historische Berlin von Schinkel und Co. links liegen. Er kümmerte sich um die Moderne seiner Zeit – der preußische Dom war nicht sein Ding. Er interessierte sich für die Kathedralen des Industriezeitalters. Jürgen Kühne dagegen führt uns an zentrale Orte des historischen, des repräsentativen Berlin: Brandenburger Tor, Zeughaus, Gendarmenmarkt, , Stadtschloss, Lustgarten mit Dom und Altem Museum. Vielleicht hängt das mit seiner Vergangenheit in der DDR zusammen. Dort war er politisch eher konservativer Mensch in der Minderheit – jedenfalls was seine Möglichkeiten öffentlicher Artikulation anging. Der einst staatlich verordnete sozialistische Realismus ist ihm bis heute ein Graus. Den glatten Fassaden der sozialistischen Zweck- und Schlichtbauten kann er nichts abgewinnen. Womöglich findet er deshalb auch keinen künstlerischen Zugang zur anspruchsvollen architektonischen Moderne des Westens. „Ich hab mir wirklich Mühe gegeben, die Philharmonie zu malen“, berichtet et er. Vergeblich. „Es ist nichts Gescheites daraus geworden.“
Es sind die historischen Gebäude, die Jürgen Kühnes Blick immer wieder neu auf sich ziehen. Die Kapitelle und Verzierungen, die vielen Fenster mit ihren einzeln gefassten kleinen Scheiben. Es sei die Kunst, die vielen Details scheinbar verschmiert zu malen, begeistert er sich, um doch im Auge der Betrachter zusammen gesetzt erkennbar werden. Stellvertretend für uns, die Betrachter, lässt er immer wieder Menschen durch seine Bilder flanieren. Aber das sind keine realistischen Darstellungen. So leer wie „sein“ Pariser Platz oder der Gendarmenmarkt ist es dort nie. Jedenfalls nicht bei Tag. Aber seine künstlerische Welt erschöpft sich nicht in einem wiederbelebten Preußentum. Auf dem Weg zwischen Berlin und Rostock lässt er sich von der Weite der flachen Landschaft mit ihren weiten Raps und Mohnfeldern inspirieren. Darüber hinaus finden auch immer wieder Segelschiffe Eingang in seine Kunst. Es gibt es noch eine Leidenschaft, die zu pflegen er im Zeitalter von Corona besonders vermisst. Jürgen Kühne ist ein leidenschaftlicher Tänzer des argentinischen Tango. Diesen Tanz und sein besonderes „Milljöh“ macht er immer wieder zum Gegenstand seiner Bilder – an die 50 sind es inzwischen, präsentiert in mehreren Ausstellungen. Doch Tango ist ein Paartanz, in dem die Partnerinnen und Partner einander sehr nahe kommen und dennoch häufig wechseln – also das gerade Gegenteil dessen, was die hoch infektiöse Pandemie uns abverlangt. Da ist es erheblich gesünder, durch das spätpreußische Berlin zu flanieren.
Gerade in der jetzigen eher grauen Jahreszeit, vermag seine Ausstellung im Nachbarschaftshaus Friedenau einen farbreichen Kontrast zur allgemeinen Tristesse zu setzen. Sie ist noch bis Ende Februar zu sehen.
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