Warum mich eine Baustelle an meine Jugend(sünden) erinnert …
Zufälle gibt’s – die können einen beinahe auf den Gedanken bringen, dass es keine Zufälle gibt. Seit einiger Zeit wird die letzte Brache in unserer Gegend bebaut. Auf dem attraktiven Eckgrundstück nebenan entstehen… nein, eben keine teuren Eigentumswohnungen, wie meist in den Berliner Neubauten, sondern Apartments für rund 100 Auszubildende zu erschwinglichen Mieten. Bauherr ist das Kolping-Werk.
In der eher gottlosen (oder protestantisch oder muslimisch geprägten) Stadt Berlin dürften nicht viele Menschen etwas mit dem Namen anfangen können. Adolph Kolping war eine wichtige Persönlichkeit der katholischen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts. Er kümmerte sich vor allem um die jungen Gesellen auf Wanderschaft. Beerdigt ist er in Köln, wo ich lange gelebt habe und er die meiste Zeit seines Lebens gewirkt hat.
Auf den Namen bin ich allerdings in meiner Jugend in Moers gestoßen. Die Stadt liegt an jenem kleinen Teil des Niederrheins, der für Katholiken fast so sehr Diaspora ist wie Berlin. Dort stand der Vater meiner ersten Freundin (nach der Tanzstunde) der örtlichen Kolping-Familie vor. Von mir hielt er eher wenig. Zunächst jedenfalls.
Denn die erste publizistische Großtat meines Lebens war es, einen lokalen Skandal auszulösen. Ich verantwortete drei Ausgaben des „Scheinwerfer“, der Schülerzeitung des ehrwürdigen humanistischen Gymnasiums Adolfinum. Zur ersten hat mich unser Direktor noch beglückwünscht, die zweite kostete mich eine zweistündige Diskussion mit ihm. Den Vertrieb der dritten auf dem Schulgelände hat er verboten. Das war 1969.
So kam ich ins Visier des Kolping-Vaters. Denn der Eklat war der „Rheinischen Post“, der konservativen unter den damals noch drei (!) Zeitungen unsrer Stadt, einen Aufmacher im Lokalteil wert. Wir hatten provozieren wollen. Und das ist uns gelungen. Wie? Das haben wir postpubertären Schülerschreiber den Medien der Erwachsenen abgeschaut: „Sex sells“. Also musste Nacktheit auf die Titelseite.
Da es sich beim „Adolfinum“ um ein Jungenymnasium handelte, konnten wir mit baren Busen aus eigenen Beständen nicht aufwarten. In No. 2 unserer Postille hatten wir uns mit der Teilansicht eines prall aufgeblasenen Luftballons geholfen. Die Lehrer interpretierten ihn, wie sie sollten. Diesen Erfolg galt es nun zu toppen. Deshalb musste einer von uns her- oder besser gesagt hinhalten: seinen Hintern. An die heutzutage üblichen „Dickpics“ war damals nicht zu denken. Da wir bei aller Provokationslust doch eher g’schamig waren, wollte der Fotoamateur unter uns seine entblößte Kehrseite per Selbstauslöser ablichten.
Von diesem Plan erzählte ich einem ehemaligen Schulbanknachbarn, den eine frühere Missetat vom Gymnasium in eine Fotografenausbildung katapultiert hatte. „Quatsch“, sagte der spätere Reporter einer großen Illustrieren. So ein „A… ist viel zu schwer auszuleuchten“. Woher er das wusste, hab‘ ich nicht gefragt. Aber da das Atelier seines Lehrherrn wochenendbedingt verwaist war, fand ich mich dort – ehe ich etwas einwenden konnte – als Fotomodell wieder. Seither weiß ich übrigens, warum von einem „Muttermal“ die Rede ist. Die meinige hat mich an einem kleinen Leberfleck erkannt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die „Rheinisch P e s t“, wie wir sagten, war selbstverständlich die Hauspostille des katholischen Vaters der Angebeteten. Also hieß es erst einmal: Kontaktverbot! Was den gestrengen Kolping-Vorsitzenden schließlich milder gestimmt hat? Ich weiß es nicht. Irgendwann landete ich jedenfalls regelmäßig neben ihm auf der Wohnzimmercouch, wenn ich seine Tochter hoch offiziell zum Spaziergang abholte. Wem da Franz Josef Degenhardts böse Kleinstadtsatire „Deutscher Sonntag“ einfällt, der oder die liegt ziemlich richtig.
Der Abholprozess pflegte sich mit der Zeit immer länger hinzuziehen. Denn der Vater meiner Nicht-Braut war ein politisch interessierter Mensch. Er fand Gefallen daran, den missratenen Verehrer seines Nachwuchses in politische Diskussionen zu verwickeln. Ich ließ mich selbstverständlich nicht lumpen, sodass die Liebste begann, über eine Begrenzung meines Kontaktes zu ihrem Erzeuger nachzudenken. Irgendwann ist diese Jugendliebe dann jenen Weg gegangen, den die meisten Jugendlieben gehen.
Ich zog zum Studium einige hundert Kilometer weit weg ins damals noch „rote“ Marburg. Meine Besuche in Moers wurden insgesamt immer seltener. Irgendwann ist meine Mutter gestorben. Seither gab es für mich keinen Grund mehr zu Besuchen am Niederrhein. Es kann allerdings vorkommen, dass ich auch als journalistischer Rentner hin und wieder eine Liedzeile summe, die der bis heute prominenteste Moerser geschrieben hat: Hanns Dieter Hüsch.
Der Kabarettist war ebenfalls ein „Adolfiner“. Aus Anhänglichkeit an seine alte Schule hat er dem „Scheinwerfer“ die Erstveröffentliung eines nostalgischen Heimatliedes geschenkt: „N‘ Abend zusammen, rief man über den Zaun, lief die Wiesen entlang, schwamm in grünlichen Seen… und wurde ein schwarzes Schaf.“