Bücher sind Müll. 0der?

Bücher sind Müll. 0der?

Es gibt Sätze, die man nicht so leicht vergisst. Diesen zum Beispiel: „Bücher sind Müll!“ Er ist mir vor einiger Zeit wieder eingefallen, als ich in meinem alten Berliner Kiez herum gestromert bin. „50 Prozent“ und „Wir schließen“ stand da in dicken Lettern auf die Schaufenster der „Bücherhalle“ geklebt. Das war einmal ein riesiges Modernes Antiquariat mit tausenden von Büchern aller größen und Genres.

Als ich noch „umme Ecke“ gewohnt und zur arbeitenden Bevölkerung gezählt habe, bin ich dort regelmäßig auf meinem Weg zur U-Bahn vorbei gekommen. Die Auslagen waren wohl sortiert und wurden immer wieder aktualisiert – wie in einem Geschäft für neue Bücher.

Deshalb habe ich eines Tages hoffungsvoll vor dem Besitzer gestanden. Ich dachte, sein modernes Antiquariat sei der beste Ort, um bei der zwangsweisen Verkleinerung meiner heimischen Bibliothek durch Umzug in eine erheblich kleinere Wohnung wenigstens noch ein paar Euro zu erlösen. Denn bei den einschlägigen Internetportalen gibt’s nach beträchtlichem bürokratischem Aufwand nur ein paar Cent pro Band. Doch der gute Mann enttäuschte mich mit der ernüchternden Lehre: „Bücher sind Müll!“

Einen großen Teil meiner recht stattlichen Bibliothek habe ich dann verschenkt. Schräg gegenüber meiner früheren Wohnung gibt’s bis heute, was ich damals „Sozialbibliothek“ genannt habe. Da kann man seine Bücher in unbegrenzter Zahl hinbringen und pro Tag bis zu drei mitnehmen.

Da war immer etwas los. Das gilt auch für die Telefonzellen, die im Zeitalter des Smartphones ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt sind. Stattdessen kann man hier zensurfrei Bücher hineinstellen oder sie entnehmen. Neulich begegnete ich abends einem jungen Mann, der fast tanzte – so glücklich war er über einen Fund.

Ums in der Begrifflichkeit meiner studentischen Spätjugend zu formulieren: Die Bücher sind hier ihres Warencharakters beraubt. Sie sind keineswegs Müll. Sie haben bloß keinen Tauschwert mehr, der sich monetarisieren ließe. Aus der Sicht des Händlers sind sie daher „Müll“. Einen guten Teil seines Umsatzes hatte er übrigens mit „jungen“ alten Büchern erzielt. Ältere waren stets schwer zu verkaufen. Daher sein resignativer Befund.

Aber die jungen…

Professionelle Rezensenten, die ungefragt zugeschickte Bücher nicht mochten, konnten hier in der Tat einen Erlös erzielen. Und die Kundschaft der Bücherhalle bekam Fast-Neu-Erscheinungen zum halben Preis, sofern die Ware nicht älter war als höchstens ein halbes Jahr. Am besten nur ein viertel. Ab und an hab auch ich hier gekauft.

Ein erheblicher Teil meiner inzwischen reduzierten Bibliothek stammt aus meiner Zeit als Redakteur für die Seite „Das Politische Buch“ beim „Kölner Stadt-Anzeiger“. Damals hab ich fast alle unverlangt zugesandten Bücher noch behalten, auch wenn sie mich nicht interessierten. Aber es war einfach zu schön, wenn Besuch neu in unsere Wohnung kam und mit Blick auf meine Bücherregale ehrfurchtsvoll fragte: „Hast Du die alle gelesen?“ Ich pflegte dann mit lässigem Stolz zu anworten: „Nicht alle. . .“

Heute frage ich mich manchmal, ob ich mich nicht noch von ein paar Exemplaren mehr hätte trennen sollen. Aber Bücher sind halt nicht nur Bildungsgüter und soziale Distinktionsmerkmale, sondern auch Erinnerungsstücke.

Meine zehnbändige Ausgabe der Werke von Heinrich Heine etwa, herausgegegeben in der DDR, hab ich von einer Reise in die damals noch existierende Sowjetunion mitgebracht. Sie stammen aus der deutschsprachigen Buchhandlung in Taschkent. Ich hab ganz schön dran geschleppt. Aber der Preis war halt zu verführerisch.

Was hab ich sonst noch aufbewahrt? Die Gesamtausgabe der Werke von Bertolt Brecht. Na klar. Uta, meine erste Frau und ich besaßen sie zwei Mal – in der grauen Suhrkamp-Version und in der DDR-Ausgabe, die in rotes Leinen gebunden war. Ich behielt die graue. Die Rote war nicht ganz vollständig.

Komplett ist auch die Ausgabe der legendären Zeitschrft „Die Weltbühne“, die lange von Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky redigiert wurde. Nicht weit von einem ihrer Redaktionssitze habe ich einmal gewohnt.

Behalten hab ich obendrein meine Bände der Bibliothek Deutscher Klassiker. Sie wurde im Auftrag des DDR-Kulturministeriums von 1954 an herausgegeben und erschien bis kurz nach der deutschen Einheit in mehr als sieben Millionen Bänden – 74 meist mehrbändige Werkausgaben von Texten, deren Original zwischen 1488 und 1926 erschienen ist. Alls Bände sorgfältig in Leinen gebunden.

Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, anfangs an der Bearbeitung beteiligt, bilanzierte 1991, lange nach seiner Flucht in den Westen, die Edition sei „sensationell gewesen“: „In allen germanistischen Seminaren der Bundesrepublik hat man sich der Weimarer Ausgaben bedient“.

Zu den Werk- oder Gesamtausgaben in meinem Bestand gehören auch Klassiker dessen, was wir gewöhnlich als Trivialliteratur bezeichnen, also die Kriminalromans von Raymond Chandler, Dashil Hammet und Co. – unverkennbar in den schwarz-gelben Ausgaben des Diogenes-Verlages.

Zu den Klassikern zählt für mich auch die Reihe über das 87. Polizeirevier von Ed McBain, der auch unter anderen Pseudonymen veröffentlicht hat. Sie spielen in einer ungenannten Stadt, die aber unschwer als New York zu erkennen ist. Polizeiromane, wie es sie heut nicht mehr gibt. Ich besitze sie leider nicht alle in der gelben Taschenbuchausgabe von Ullstein. Aber inzwischen ist meine Sammlung auch aus anderen Verlagen komplett – eine „Commedia Humana“ in Form von Kriminalromanen.

Der irische hardboiled Autor Ken Bruen, auf den ich jüngst gestoßen bin, schildert einen seiner Protagonisten als Fan des 87. Polizeireviers. Seinen Hund hat er nach einem Polizisten des Reviers genannt: Meyer. Dass der Tausendsassa McBain auch das Drehbuch von Alfred Hitchcocks „Die Vögel“ vefasste, hab ich erst bei der Lektüre für den vorliegenden Text erfahren.

Gehaltvoll, aber schmal, deshalb gut vewahrbar selbt in einer kleinen Wohnung sind die Bände der rororo Bildmonographien, lange Zeit verfasst von renomierten Autoren wie Sebastian Haffner. Überhaupt hab ich vor allem Historische Biografien aufgehoben. Dazu ein paar wenige Darstellungen der Geschichte der Bundesrepublik – etwa von Ralf Dahrendorf und Alfred Grosser. Oder, ebenfalls ein Klassiker, Arnulf Barings Der 17. Juni 1953 oder die Bücher von Günter Gaus. Von ihm schau ich mir ab und zu auch eine seiner legendären Interviewsendungen an, die es zum Glück auf Youtube gibt. Aber das ist eine andere Geschichte…

Halbwegs gut bestückt sind auch meine drei Regalbretter zur Geschichte der populären Musik. Davon konnte ich im Text „Auf den Flügeln des(Protest)gesangs“ für meinen Blog www.kroesflanaden.de zehren. Hier kommt aktuell immer wieder ein wenig Tango hinzu. Denn die Bücher von Michael Lavocah über die Granden des Tango Argentino gibt es nur auf Papier. Ich hab sie als Tangoblogger weidlich ausgeschlachtet. www.kroestango.de ist aktuell nicht mehr erreichbar. Aber ich habe mir vorgenommen, einige Stücke wieder zugänglich zu machen, an denen mir besonders liegt. Das sind keineswegs jene, die seinerzeit die meisten Klicks erzielt haben.

Ansonsten kauf ich höchstens noch (und das eher selten) Kunstbildbände und Kataloge von Ausstellungen, die ich besucht habe. Soviel zu jenem Teil des „Mülls“, von dem ich mich nicht zu trennen vermag. Im übrigen hab ich mich auf e-books verlegt. Die nehmen nicht nur keinen Platz weg. Ich kann ihre Schriftgröße auch passend für meine schwächer gewordenen Augen einstellen.

Wo der ganze „Müll“ des Antiquars mit dem herben Humor gelandet ist? Ich weiß es nicht. Seine ehemaligen Räume stehen seit geraumer Zeit leer – wie so viele Ladenlokale in Berlin.

Meine Bilder (8): Selbst – Triptychon

Meine Bilder (8): Selbst – Triptychon

Nein, diese drei Bilder habe ich nicht selbst fotografiert oder gemalt. Ich habe sie nur über einander gehängt. Seit wann ich sie besitze? Keine Ahnung. Anders als der frühere BILDchef Kai Diekmann hab ich keine Assistentin, die mir für meine Erinnerungen eine Chronologie zusammenstellen kann. Ich neige nicht zu tagebuchähnlichen Aufzeichnungen. Und mein Gedächtnis wird auch nicht besser.

Das untere Bild stammt von Barbara Klemm, der großen alten Dame unter den (west)deutschen Fotografen. Es muss in den letzten Jahren der Kanzlerschaft von Helmut Kohl entstanden sein. Jedenfalls verfügte die Frankurter Allgemeine, für die Klemm arbeitete, damals noch über eine wöchtlich erscheinende Kupfertiefdruckbeilage mit hervoragenen großen Schwarz-Weiß-Fotos.

Ich fand (und finde) es faszinierend, wie Helmut Kohl da versonnen auf Plastiken führender Perönlichkeiten des deutschen Sozialsmus/Kommunismus schaut – von Walter Ulbricht bis Rosa Luxemburg. Es handelt sich offenbar um eine Austellung zur deutschen Einheit, die es ohne ihn wohl nicht so schnell gegeben hätte. Was ihm da durch den Kopf ging, können wir nur ahnen. Am linken Bildrand ist noch der Beginn des Slogans zu sehen: „Wir sind das Volk“.

Gibt es bei Fotos Originale? Spezielle Abzüge für Ausstellungen können jedenfalls sehr teuer sein. Ich hab damals Barbara Klemm angeschrieben und gefragt, ob sie ihre Bilder auch privat vekaufe und was eins koste. Eigentlich nicht, antwortete sie, aber weil ich so nett fragte… Ich solle doch ihrer Laborantin 30 (oder waren es 50?) Mark überweisen. Seither besitze ich also ein echtes Klemm.

Vom oberen Bild weiß ich die Quelle nicht mehr. Ich hab es aus der Zeitung ausgeschnitten. Nofrete war die Hauptgemalin des Pharao Echnaton und lebte im 14. Jahrhundert vor Beginn unserer Zeitrechnung. Ihre rätselhafte Schönheit fasziniert seit Generatioen. Die Geschichte ihres Abbilds ist eine eigene Geschichte, deren Beschreibung ganze Bibiotheken füllt. Auch hier können wir nur spekulieren, was der Betrachterin durch den Kopf geht. Sie dürfte sich zum Zeitpunkt der Aufnahme gerade im Zenit ihrer Macht befunden haben.

Zwei deutsche Regierungschefs, die man wegen der Länge ihrer Amtszeit schon zu Lebzeiten die „ewigen“ genannt hat, im Angesicht der Geschichte – mich hat diese Kombination gereizt.

Das dritte Bild hat mit den beiden anderen so gar nichts zu tum. Auf den ersten Blick jedenfalls. Auf den zweiten wird es etwas komplizierter – nicht bloß, weil es zu einer Kampagne gehört, die so etwas wie eine Revolution in der Bier-Werbung auslöste. Bis dahin wurden meist schwere Brauerpferde gezeigt, die das Gesöff in die Kneipen brachten. Und ähnliche Gemütlichkeiten, die man für volkstümlich hielt. Von nun an wurde es originell.

Bei dem Bild handelt es sich um Dummy. Einen Entwurf, an dem der damalige Freund und spätere Ehemann eine Volontärin beteiligt war, die ich beim Kölner Stadt-Anzeiger betreut habe. Sie hatte sich in Köln beworben, wurde dann aber zur Mitteldeutschen Zeitung geschickt, die damals zum selben Verlag gehörte. Wir haben uns nach ihrem Umzug regelmäßig getroffen. Sie hat mir von ihrem Problem erzählt als Untermieterin einer älteren Dame, vor allem aber als Westdeutsche im damals noch ziemlich frisch angeschlossenen Osten.

Irgendwann hab ich dann den Ruf des Tagespiegel nach Bonn bekommen, der mich schließlich nach Berlin führte. Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls hat sie mir zum Abschied dies Bild geschenkt mit dem wunderschön frisch gezapften Kölsch. Im Lauf der Zeit sind die Farben etwas veblasst und mit ihnen meine Sehnsucht nach dem Rheinland. Ich trinke auch längst kein Bier mehr. Aber bei meinen seltenen Visiten in Köln und wenn ich nach dem Besuch des Deutschen Theaters oder des Berliner Ensembles in der „Ständigen Vertretung“ einkehre, jener rheinischen Nostalgie-Kneipe am Schiffbauer Damm – dann muss es immer ein Kölsch sein. Als Apritif. Und zur Erinnerung.

Neue Musik und alte Tänzer in den Milongas von heute und morgen – Überlegungen aus Anlass von zwei Ausgaben der TANGODANZA

Neue Musik und alte Tänzer in den Milongas von heute und morgen – Überlegungen aus Anlass von zwei Ausgaben der TANGODANZA

Lange nicht mehr über Tango geschrieben. Ich hatte mir vorgenommen, die vorige Ausgabe der TANGODANZA lobend zu besprechen. Rund um einen Artikel des Münchener DJ Olli Eyding mit dem Titel „TangoYoung… und andere Initiativen gegen die Überalterung der Tangoszene“ (TD 3/24) hatte sie eine Reihe themenverwandter Texte gruppiert. Prima Schwerpunktbildung für ein zentrales Thema unserer Szene, fand ich. Dass Autor und Redaktion damit einen Sturm der Entrüstung entfachten, damit hatte wohl keiner der Beteiligten gerechnet. An der Spitze stürmte die bekannte Berliner Tango-Autorin Lea Martin. Aber davon später. . .

Meine Aufmerksamkeit wurde erst einmal von einem anderen Thema absorbiert. Auf der Suche nach Lesestoff war ich auf einen Krimi mit dem Titel „Waldeck“  gestoßen. So heißt eine Burgruine im Hunsrück. Dort fand  von  1962 an das „Festival Chanson und Folklore international“ statt. Da ging es um Musik und Lieder von Franz Joseph Degenhardt, Hannes Wader und anderen, die mich lange vor dem Tango in ihren Bann geschlagen hatten. Ich versank für eine Weile in dieser Welt. Resultat war ein Artikel mit dem Titel „Auf den Flügeln des (Protest)gesangs“. Bis  heute poste ich auf Facebook immer wieder Lieder aus jener Zeit.  Fridolin Lützelschwab (Künstlername „El tigre Viejo“) einer meiner Lieblings DJs, legt in seinen Mixed Milongas ab und zu einen Walzer von Franz Joseph Degenhardt auf: „Die jungen Paare auf den Bänken“, seine deutsche Fassung des Chansons „Les amoureux des bancs publics“ von Georges Brassens. Womit wir bei meinem neuen Thema wären.

Für mich stammt der wichtigste Text in der neuen Tangodanza von Stefan Sagrowske: „Klassik, Neo oder Non?  oder Die traditionellen  Totengräber des Tango“ (TD 4/2024, S. 71f.) „Mich langweilen Milongas, die nur klassische Tangos bieten oder nur Neos wie Otros Aires und Quadro Nuevo. Oder nur Nons mit Rock und Pop, schreibt der Zeitungsredakteur aus Münster.  „Ich möchte zu allem tanzen – und habe tatsächlich auch zu klassischen Nicht-Tango-Meisterwerken schon fantastische Tangos getanzt.“ Das versteh ich gut. Meine Liebste und ich können nicht still sitzen, wenn in unserer Lieblingsmilonga, im Tangocafe von Thomas Klahn im Berliner Bebop, „Fever“ ertönt.

Das Thema „Musik“ ist ein Dauerbrenner in unserer Szene. Gerhard Riedl, der „Last man standing“ unter den Tango-Bloggern, schreibt sich seit Jahren die Finger wund mit seiner Forderung nach Verbreiterung des Musik- Angebots und veröffentlicht immer wieder kommentierte „Piazzolla zum Tanzen“. Auch ich habe mich an diesem Thema versucht. In meinem stillgelegten Blog „mYlonga – Beobachtungen und Bemerkungen eines Tango tanzenden Flaneurs“ (kroestango.de) hab ich regelmäßig dogmatische Traditionalisten mit der Forderung nach Piazzolla in unserem Milongas genervt.

Vor etwas mehr als zehn Jahren ging die Sängerin Annette Postel mit einer Wortschöpfung „viral“, wie wir heute sagen würden. In einem „Offenen Brief“ in der TANGODANZA wetterte sie gegen die Dominanz des Klassischen Tango und forderte polemisch „Stoppt die Tango-Taliban!“ Mit ihrem „TT-Wort“ kann man Traditionalisten bis heute auf die Palme bringen. Seit einiger Zeit tritt Postel mit einem Programm auf, zu dem auch die satirische Verballhornung eines Tango-Klassikers von Homero Manzi und Lucio Demare gehört.

Stefan S. berichtet von einem Tango-Urlaub an der Nordsee. Da gab es in einem Meer von Klassik plötzlich zwei Inseln von Non-und Neotango. Zweimal volle Pista. Zweimal Applaus der TänzerInnen. Der Autor stellt klar, er und viele seiner Bekannten wollten „gar keine reine Irgendwas-Milonga. Wir würden uns über einen schönen Mix freuen, 50 Prozent Klassik, 30 Prozent Non und 20 Prozent Neo zum Beispiel“. Auch in Berlin, der angeblichen Tango-Hauptstadt Europas, ist derlei eher selten.

Wir hatten letztens Glück im Raum Göttingen. In zwei Milongas waren die Non/Neos in das Schema Tango/Vals/Milonga integriert. Bei der Aufforderung war der Cabeceo üblich, aber nicht Pflicht, verbales „Magst Du Tanzen“ von Männern wie Frauen kein Problem; ebenso die Integration ortfremder Gäste. Ob die gesellschaftliche Offenheit mit der musikalischen zu tun hatte? Gute Frage! Nächste Frage. . .

Aber so sehr ich Stefans Vorschlägen zustimme, seine Erwartung halte ich für eine Illusion – dass mit der „Verjüngung“ des Musikangebots auch dem Problem beizukommen

wäre, das die TANGODANZA in ihrer vorigen Ausgabe so vorbildlich beleuchtet hat: Die Überalterung der Tango-Gemeinde. Er habe „die 60 längst überschritten“, schreibt Stefan Sagrowske. Ich bin über 70 Jahre alt, der unermüdliche Gerhard Riedl nicht jünger. Sind wir nicht eher Teil des Problems als Teil der Lösung?

Ich weiß in Berlin von zwei Milongas mit deutlich jüngerem Publikum. In der einen gibt’s vor allem moderne Musik bis hin zum Electrotango, in der anderen ist „strictly classic“ angesagt. Bei meinen Besuchen im TANGOLOFT, der nicht nur musikalisch  „buntesten“ Milonga der Stadt, hab ich kein signifikant jüngeres Publikum angetroffen. Was sagt uns das?

Er habe vor rund 30 Jahren mit dem Tango begonnen, als 25jähriger Student, berichtet der Münchener DJ und Tangoveranstalter Olli Eyding. (TD 3/24, S.14ff) „Heute kann man uns, die Generation  der 50+, 60+ und 70+, in der deutschen Tangoszene nicht mehr ignorieren. Wir Boomer sind der Tango. Überall graues Haar, gereifte Menschen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen scheinen die einzigen Jungen die argentinischen Tanzlehrerpaare zu sein.“

Kaum anders ist mein Eindruck, wenn ich mich einmal im Jahr im Sommer beim Tango auf dem Berliner Breitscheidplatz vergnüge, den Judith Preuß mit ihrer Schule „Mala Junta“ organisiert.

Wegen meiner Parkinson-Erkrankung geh ich nicht mehr so oft tanzen wie früher. Aber hier sehe ich Menschen aus allen möglichen Teilen der Berliner Tangoszene – darunter kaum ein Gesicht, das ich nicht aus jenen  Zeiten kenne, als ich noch zwei bis drei Mal in der Woche unterwegs war.

Ähnlich ging es mir übrigens, als Lea Martin in einer (Glückwunsch!) überfüllten Veranstaltung eine Auswahl ihrer Tango-Kolumnen vorlas: „Überall graues Haar, gereifte Menschen.“ (Olli Eyding)

Die Autorin sieht das anders: „Eine ‚Überalterung‘ festzustellen und dann auch noch was gegen sie unternehmen zu wollen, ist Ageism (Altersdiskriminierung, Th. K.)vom Feinsten“, schreibt sie in einer E-Mail an die TANNGODANZA. Sie findet es „zynisch, den Tango  wie ein Produkt vermarkten zu wollen, dem eine Zielgruppe fehlt“. Nicht „wir Boomer“ seien der Tango. Vielmehr setze er sich „aus vielen einzelnen Menschen zusammen, die ihn lieben,  pflegen, weitertragen.“ Der Begriff ´Überalterung` habe „in der Tangoszene nichts verloren.“

Er sei „nicht gerade ein schöner Begriff“ räumt eine weniger bekannte Leserin ein. Aber realistisch gesehen beschreibe er wohl einen Zustand, der „leider tatsächlich der Realität entspricht“, schreibt Ricarda Siebold.

Die Redaktion hebt in ihrem Editorial zur aktuellen Ausgabe hervor, sie habe keineswegs diskriminieren wollen, sondern „realistisch auf den demografischen Wandel hinweisen, der auf unseren Milongas spürbar“ sei: „Die Tangoszene altert sichtbar“ – „möglicherweise an manchen Orten mehr, an anderen weniger spürbar.“ Auf jeden Fall auch bei der Zeitschrift selbst: „Die meisten Abos werden ganz klar aus Altersgründen beendet – weil viele unserer Leserinnen und Leser schlichtweg mit dem Tanzen aufhören (müssen)“. Die verbliebene Leserschaft wird aufgefordert, ihre eigenen „Sichtweisen und Erfahrungen“ mitzuteilen.  Denn vielleicht „wissen wir gar nicht genug über diejenigen, die nicht kommen, weil das, was sie auf der Milonga vorfinden, weit entfernt von ihrer Alterskohorte ist.“ Ich bin gespannt auf die Berichte in der nächsten Ausgabe.

PS: Zu meinen liebsten Rubriken in der TANGODANTA zählen die CD-Recensiones und die Hinweise auf argentinische oder deutsche Tangomusiker. Von ihnen lasse ich mich immer wieder gern zum Stöbern auf YT inspirieren –  zum Beispiel durch eine Besprechung von Arnd Büssing.

Meine Bilder (7): Hans Baluschek – Montagmorgen

Meine Bilder (7): Hans Baluschek – Montagmorgen

Es wird Zeit, dass ich wieder zu einem Blick auf eins der Bilder einlade, die mich umgeben. In dies hier hab ich mich vor Jahren verliebt, als ich noch zum werktätigen Teil der Bevölkerung zählte. Es stammt von Hans Baluschek, einem meiner Berliner Lieblingsmaler. Sein Titel: Montag Morgen.

Wie die vier jungen Frauen unlustig bis erschöpft herumhängen – das drückte auch meine Stimmunng aus, wenn ich nach einem eben doch nicht arbeitsfreien Wochenende wieder ins Büro musste. Oder besser noch: Wenn ich es nicht geschafft hatte, nach einem Wochenende voller Tango einen freien Tag zu nehmen oder mir wenigstens einen späteren Arbeitsbeginn zu organisieren.

Baluschek gehörte zu den Malern, die Kaiser Wilhelm II. in einer berüchtigten Rede 1901 als „Rinnsteinkünstler“ bezeichnet hat, weil sie sich darum bemühten, die soziale Realität darzustellen. Viele von ihnen, an der Spitze Käthe Kollwitz, wurden Kommunisten. Baluschek dagegen blieb bis zu seinem Tod 1935 Sozialdemokrat.

Der „Montagmorgen“ zählt nicht zu seinen Hauptwerken. In Monografien wird es selten erwähnt. Ich hab es in einer Ausstellung im Berliner Bröhan-Musum entdeckt. Meine Kopie hat annähernd die Maße des Originals. Wer unsere Wohnung betritt, geht direkt auf das Gemälde zu. Aus meiner Sicht handelt es sich um ein höcht ungewöhnliches Motiv. Denn es zeigt kein soziales Elend oder familäre Vergnügungen aus dem Miieu der Arbeiterklasse. Nein, hier sind eigenständige junge Frauen zu sehen, wie ich sie eher in der Welt der Angestellten der 1920er Jahre erwarten würde, die Siegfried Kracauer so treffend beschrieben hat. Aber das Bild stammt vom 1899.

Welchem Beruf die vier nachgehen? Haben sie sich am Wochenende etwas dazu verdient, auf welche Weise auch immer? Oder haben sie sich schlicht vergnügt – es muss ja nicht beim Tango gewesen sein. Keine Ahnung.Jedenfalls müssen sie zum Wochenbeginn früh raus, obwohl ihnen die Tage und Nächte zuvor sichtlich noch in den Knochen stecken.

Die neueste Forschung hat im Werk des Künstlers versteckte Anspielungen auf Okkultismus und Spiritismus entdeckt, die es zu entschlüsseln gelte. Mag sein. In meinem Lieblingsbild finde ich davon so wenig wie von der „Elendsmalerei“ des übrigen Werkes.

Für mich ist der „Montagmorgen“ Hans Baluscheks modernstes Gemälde.